Geschrieben am 1. März 2022 von für Crimemag, CrimeMag März 2022

Gerhard Beckmann über Susanne Abel „Stay Away from Gretchen“

Ein Neubeginn der deutschen Gegenwartsliteratur

Es ist für uns heute schon gar nicht mehr vorstellbar: Bis gegen Ende des letzten Jahrhunderts, vor drei Jahrzehnten noch, hatten wir keinen Begriff für das seelische Leid, keine besondere Wahrnehmung der Verstörungen von Opfern der Verwerfungen in Natur, Gesellschaft und Politik, Unterdrückung und Vertreibung, von sexueller Gewalt und Misshandlungen. Inzwischen werden sie allesamt als ein besonderes Phänomen des Leids verstanden, werden sie als traumatisch gekennzeichnet, „hat man endlich anerkannt, dass Ereignisse wie Krieg, Verfolgung und Naturkatastrophen – selbst bei physischer Unversehrtheit – schwerwiegende psychische Folgen nach sich ziehen können“, wie der Psychologe und Therapeut David Becker in seinem Buch „Die Erfindung des Traumas“ (2006) erklärt hat. 

Da kann es kaum wundern, dass ein deutscher Dokumentarfilm erst vor zehn Jahren „zum ersten mal Licht auf das dunkle Kapitel der deutsch-amerikanischen Nachkriegsgeschichte warf“ – eine ARTE-Produktion unter dem Titel „Brown Babies – Deutschlands verlorene Kinder“. Der Film der Regisseurin Michaela Kirst 2012 ist dafür mit dem Fernsehpreis der RIAS Berlin Kommission ausgezeichnet worden. 

Und es hat bis zum letzten Jahr gedauert, bis der erste große deutsche Roman herausgekommen ist, der diese finstere Geschichte unserer Nachkriegszeit aufgegriffen hat, die lange systematisch totgeschwiegen wurde – das Thema des Leids der Kinder von deutschen Mädchen und Frauen mit afroamerikanischen Soldaten, die ihren Müttern entrissen, zwangsadoptiert und zu Schwarzen Familien in die USA deportiert wurden. 

Und wieder ist es eine Künstlerin des dokumentarischen Fernsehfilms, die das Thema ergriffen hat – das Thema des wohl schlimmsten rassistischen politischen Massenprogramms zur Diffamierung und Misshandlung hilfloser Menschen in Westdeutschland bzw. in der Bundesrepublik nach 1945. Der Roman „Stay Away from Gretchen. Eine unmögliche Liebesgeschichte“ von Susanne Abel – Absolventin der renommierten Deutschen Film- und Fernsehakademie in Berlin – ist ein bemerkenswertes Ereignis auf dem Buchmarkt unseres Landes.  Und er stellt ein der gegenwärtigen deutschen Literatur seltenes Phänomen dar. Es ist auffällig, wenn die unabhängigen Buchhandlungen und ihre Kundschaft gleich bei Erscheinen auf ein Erstlingswerk setzen. Es ist ungewöhnlich, dass es nicht nur einmal kurz, sondern mehrmals, immer wieder von neuem als Bestseller auftaucht. Es ist stark, wenn er es zudem auf Platz Neun der Jahresbestsellerliste im „Spiegel“ bringt. Es ist schon nennenswert, dass er von der Publikation im März 2021 bis November 2021 hunderttausend Käufer findet. Wenn von ihm seither bis vor einer Woche noch einmal 90.000 Exemplare verkauft werden, so ist das ganz exzeptionell; denn die normale Laufzeit eines Top-Bestsellertitel beträgt hierzulande heute nur noch rund drei Monate. Und wenngleich der Roman eine durchweg positive Presse gehabt hat, angefangen mit einem frühen Lob von Elke Heidenreich, hat ihn doch keines unserer führenden Feuilletons an die große Glocke gehängt und ausgeführt, was diese Novität so besonders, was ihre Lektüre zu mehr als einer guten gehobenen Unterhaltung macht, was an ihr offenbar so viele persönlich anspricht, was den Erfolg gerade diesen deutschen Romans von der Misshandlung einer jungen Flüchtlingsfrau aus Ostpreußen im Heidelberg unter amerikanischer Besatzung verständlich machen könnte. 

Ja, er hat mich bei der ersten Lektüre vor einem halben Jahr beeindruckt. Aber weshalb hat er mich einfach nicht mehr  losgelassen? Worin besteht in diesem zeithistorischen Erzählwerk das Geheimnis der Resonanzen, dass es – quasi wie Generalschlüssel – auch für mich Türen zur Suche nach Antworten auf bisher undefinierbare, seit Jahrzehnten zugeschüttete existentielle, zwischenmenschliche Problemkomplexe geöffnet hat?

Ein Perspektivenwechsel in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur:  Was wird nun aus dem Weiterleben einer Frau NACH dem von ihnen erlittenen  traumatischen Misshandlungsakt?

Die Psychologie befasst sich mittlerweile intensiv mit der Erforschung und Behandlung von Traumata – mit psychischen Verletzungen, die von tiefen seelischen Erschütterungen begleitet werden, von Verwundungen, mit deren Verarbeitung Menschen überfordert sind. In den Medien und in der Alltagssprache aber ist die Verwendung des Begriffs so breit und inflationär geworden, dass er allzu oft nicht weiterhilft und dass er fast ein Teil der individuellen Ohnmacht scheint, die das Erleben solcher Traumata kennzeichnen, und gleichzeitig als Accessoire des Instrumentariums dient, das zum Kommerz des allgegenwärtigen, oberflächlich schaurigen Infotainments in den Massenmedien gehört. Sie nutzen ein tatsächliches Wuchern von  Misshandlungen, um Opfermentalitäten zu generieren, die sie dann in immer neuen Verzüchtungen eines medialem Konsum-Fehlverhaltens ausschlachten. 

Mittlerweile hat so etwas auf die Welt der Bücher durchgeschlagen. Das gilt in besonderem Maß für die USA und dort in höchstem Maß für sexuelle Misshandlungen von Frauen und minderjährigen Mädchen, nachdem während der letzten Jahre eine wachsende Anzahl von Me-Too-Vorfällen publik geworden ist. Dabei fällt tendenziell zweierlei auf, zum einen, dass die Täter – je prominenter, desto besser – im Vordergrund der Berichte und Publikationen stehen und sich das  Augenmerk  – ein Verlangen nach „Gerechtigkeit“ hat die populären Genres von Kriminalgeschichten und Thrillern schon immer stark fokussiert – auf die Missetaten selbst und die erwartete Bestrafung der überwiegend männlichen Übeltäter richtet. Und zum andern, dass die Wahrnehmung der (weiblichem) Opfer im wesentlichen auf ihre Vergangenheit beschränkt bleibt.

„Ein Resultat dessen besteht darin, dass wir keine Sprache für das haben, was im Leben eines Opfers geschieht, nachdem sein Leid der Vergangenheit ausgegraben worden ist, obwohl unsere gemeinsamen verbalen Gesten – so wie der Begriff ´´Überlebende“ – auf die Zukunft verweisen. Das Trauma des Opfers in Folge des erlittenen Gewalttakts erfährt nur selten die überschwengliche Aufmerksamkeit, die wir jenem Augenblich der Verletzung widmen, welche die Überlebende von einer minderbelasteten Vergangenheit trennt“, schreibt Lili Loofbourow, eine Autorin in der Redaktion der Zeitschrift „Slate“ in einem vielbeachteten Essay, der am 12, März 2020 in der „New York Review of Books“ erschien. 

Der Essay befasst sich mit den drei neuen Romanen von Miriam Toews („Die Aussprache“, Hoffmann & Campe), Rachel Cline („The Question Authority“) und „Die Zeuginnen“ (Piper Taschenbuch), von Margaret Atwood, mit dem englischen Booker Prize ausgezeichnet. Diese Bücher erweitern unseren Horizont. Sie markieren einen Perspektivenwechsel, indem sie die Lebenswirklichkeit von Frauen im Nachwirken von sexuellen Misshandlungen reflektieren. Sie verleihen den Opfern als Überlebenden eine Stimme, die vordem sprachlos, waren. Sie relativieren die überschätzte Bedeutung einer publizistischen Enthüllung per se. In den Mittelpunkt rückt die Frage, was Frauen aus neugewonnenen Wissen um ihr Trauma  machen, ob und wie sie  daraus neue Existenzmöglichkeiten gewinnen  könnten – und wie Frauen sich entscheiden, sie zu nutzen, um überleben zu können. Hier wird Literatur sozusagen zum Schrittmacher einer notwendigen neuartigen Artikulation gesellschaftlichen Realitätsgewinns und Umdenkens.

Eine deutsche Parallele – der posttraumatische Belastungsstress einer Frau in Folge von politischer Misshandlung durch US-Militär und kollaborierende deutsche Behörden

Genau das leistet nun hier zu Lande , gewissermaßen in einem literarischen Parallelvorgang,  Susanne Abel mit ihrem Debut „Stay Away from Gretchen“. In dem Roman geht es keineswegs darum, endlich das ganze Trauerspiel der Beziehungen von deutschen Frauen mit afroamerikanischen GIs nach 1945 als spannenden historischen Unterhaltungsstoff zu inszenieren. Er handelt vielmehr von dem Trauma eines deutschen Mädchens, das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs in höllischer Angst vor den Soldaten und Greueln der sowjetischen Armee mit ihrer Familie von Ostpreußen nach Heidelberg geflüchtet ist. Dort findet sie mit dem farbigen US-Soldaten Robert Cooper die Liebe und mit der Geburt der gemeinsamen Tochter die Erfüllung ihres Lebens. Doch das Glück endet abrupt, und mit einem Abgang. Ihr Mann ist plötzlich, ohne Abschied, wie vom Erdboden verschluckt. Greta  wird nie mehr  von ihm hören – als habe er sie verstoßen oder allen lieben Worten zum Trotz nie geliebt. Sie verliert jegliches Selbstwertgefühl. Und mehr noch: Die Tochter wird ihr weggenommen, in ein spezielles Entsorgungs-Kinderheim gesteckt und dann zur zwangsweisen Adoption durch eine unbekannte, ungenannte schwarze Familie in die Vereinigten Staaten expediert, zu der ihr auf immer und ewig jeder Versuch einer Kontaktaufnahme untersagt ist. 

Greta ist also das Opfer einer Massenmisshandlung – ein Opfer des Rassismus, mit dem die US-Army ihren afroamerikanischen Truppen die Verbindung mit Landestöchtern verbot; ein Opfer der Militärbehörden, die Robert Cooper wegen Nichtbeachtung der Vorschriften flugs an irgendeinen ihrer anderen Dienstorte in der fernen Welt versetzte; ein Opfer der kollaborierenden deutschen Behörden, die sie, die Ehelose – und folglich ohne Sorgerecht für das eigene Kind – , ihrer Tochter beraubte, und sie, als in Deutschland unerwünschten Mischling, der auch in den Staaten missliebig war, zu einer anonymen adoptionswilligen Schwarzen Familie verschickte; ein Opfer, weil sie daheim auch noch als „Negerflittchen“ verschrien wurde. Aber auch die Geschichte dieser traumatischen Erfahrung solcher multiplen Misshandlung wird in dem Roman nicht erzählerisch ausgebreitet. Greta unterdrückt und beschweigt sie – aus Not und aus Scham, um eines bürgerlichen Überlebens willen Sie ist in Gretas eben danach gar nicht präsent. Sie kann darüber nicht sprechen – insofern hätte die Autorin es in diesem Roman auch nicht mit den gängigen Reportage-Methoden der Genreliteratur oder in den üblichen Stimmlagen einer bekennerhaften bzw. literarischen Trauma-Bewältigung – Anklage, Empörung und Wut – darstellen können. 

Schweigen im Nationalpark –  Literatur als privates Aufklärungsmedium:, ein neuartiger Familienroman

Susanne Abel hat also einen anderen Weg suchen müssen, und sie hat einen Weg gefunden. Es ist sozusagen die interne Perspektive einer Aufklärung der verstörenden Vorkommisse in dunkler Vergangenheit – als Familienangelegenheit, als schriebe sie einen originären modernen Familienroman. Sie hat der 84jährigen Witwe Greta Monderath einen Sohn zur Seite gestellt, Tom, den Sohn aus ihrer (späteren) Ehe mit einem Arzt, dem 
ihre frühe Vergangenheit ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln ist. Er liebt sie sehr, aber weil sie depressiv ist ist, will er sie nicht mit ihrer offenbar schweren Vergangenheit konfrontieren und ist so ebenfalls ein Opfer ihrer Sprachlosigkeit. Doch als bei ihr Demenz durchbricht und sie die Kontrolle über ihr tägliches Leben und Gedächtnis verliert, werden bei ihr Erinnerungen an die wundervolle Kindheit bei den Großeltern und an die schreckliche Flucht aus dem preußischen Eylau vor den Russen wach. Aus ihren fragmentarischen Erzählungen wird Tom allmählich bewusst, dass diese Greta ein völlig anderer Mensch gewesen ist als die Mutter, die ihm gegenüber immer wie versteinert wirkte. Er beginnt, sich für sie zu interessieren. Und in ihren persönlichen Dingen, die er als einzig verbliebener Verwandter in Ordnung zu bringen hat, stößt er an versteckter Stelle schließlich auf das verblichene Foto eines kleinen Mädchens, das ihm Rätsel aufgibt, dessen Lösung er irgendwie als dringend empfindet. 

Von dem Kölner Fernsehsender, bei dem er als Nachrichtenmodertor tätig ist, nimmt er für drei Monate unbezahlten Urlaub und begibt sich auf eine private Pilgerschaft, bis er das Rätsel in den USA  zu lösen vermag: Dort findet Tom Monderath schließlich Robert Cooper, macht auch seine  Halbschwester ausfindig, erschließt sich die ganze Kette der Misshandlungen, die seine Mutter für ihr ganzes Leben traumatisierten, und sein eigenes persönliches Leben gelangt  – fast sechseinhalb Jahrzehnte nach den Heidelberger Traumata seiner Mutter! –  an einen unerwarteten, entscheidenden Wendepunkt.

Individuelles Trauma als kollektiver Erfahrungshorizont  – ein Traum(a) von Deutschlandroman 

Anders als bei der Mehrheit der amerikanischen Me-Too-Autorinnen geht es bei Susanne Abel nicht um die Rekonstruktion und Publikation von Unrecht, das in der Vergangenheit erlitten wurde. Anders als bei ihren dortigen Literaturkolleginnen und deren Post-Traumatic-Novels kann ihr auch nicht darauf ankommen, dem verstummten Opfer einer Misshandlung nach einer posttraumatischen Leidensphase endlich eine eigene Stimme zu geben bzw. eine Diskussionsmöglichkeit für das künftige Leben zu eröffnen. Der heimliche und doch eigentliche Fokus des Romans „Stay Away from Gretchen“ ist Tom, Greta Monderaths Sohn. Dass er für die Geschichte seiner Mutter als Wünschelrutengänger fungiert, ist jedoch kein fauler Zauber, ein fiktionaler Trick der Autorin, sondern eine geniale literarische Umsetzung von gesicherten Erkenntnissen aus der psychologischen Forschung. Sie laufen darauf hinaus, dass posttraumatischer Belastungsstress chronisch sein kann und – unter dem Begriff vom transgenerationalem Trauma – auf Kinder und weitere Generationen übertragbar ist. Tom Monderath tritt – und das macht eine besondere Qualität und Essenz dieses Romans aus – primär nicht als überaus kompetenter journalistischer Profi-Ermittler in Erscheinung. Er legt auch keineswegs vorrangig eine pflichtbewusste Erfüllung fürsorglicher Aufgaben für die kranke Mutter an den Tag. Tom Monderath ist eine so bedeutsame und zentrale Gestalt dieser Geschichte, weil er durch die traumatischen Verstörungen, die Greta Monderath in ihren mütterlichen Liebesbezeugungen behindert haben, selbst an mangelnder menschlicher Bindungs- und Liebesfähigkeit leidet. 

Tom Monderath ist, ohne es zu wissen, Opfer eines Traumas seiner Mutter, von dem er nichts weiß. Das verleiht seiner Wahrheitssuche eine eigenartige Eindringlichkeit, Glaubwürdigkeit und Intensität. Der Geschichte seiner Mutter, die er dabei aufdeckt, verleiht sie eine ungewohnte Aura von Gegenwärtigkeit. So formen die Traumata der Nachkriegszeit sich als Event der Gegenwart. Und auf diese Weise runden sich auch die ihm unbekannten Nacherzählungen des deutschen Flüchtlings- und Vertriebenenelends Mitte der 1940er Jahre, die aus dem freigesetzten Tiefengedächtnis der dementen Mutter auf Tom Monderath zukommen, zu Gegenwartserinnerungen an die Flüchtlings- und Migrationsschicksale, die ihn 2015 als leitenden politischem Redakteur in aktuellen Nachrichten und Bildsequenzen aufrütteln. In diesem Roman einer Individualrecherche wird die deutsche Geschichte der letzten 80 Jahre durchsichtig.

Ein Neuansatz der zeitgenössischen deutschen  Literatur nach dem Konzept eines vorbildlichen Dokumentarfilms

Man mag bei anfänglicher Lektüre den Eindruck gewinnen, es handele sich um einen interessanten, aber unterhaltenden Roman. Das Medium ist eine klare, einfache Alltagssprache. Aber, wie gesagt, der Roman spielt im Privatumfeld einer Familie. Dass er fernab des Wut- und Empörungsgenres verläuft, hat aber auch noch einen anderen Grund. Er resultiert aus seiner Struktur und seiner Dramaturgie, die an ein Idealkonzept des Dokumentarfilms erinnern. Da läuft offensichtlich alles in einem Rahmen von  Sachlichkeit und  Objektivität. Es ist, soweit nachprüfbar, wissenschaftlich fundiert, beruht in seinen Grundintuitionen auf autobiographischen Erfahrungen der Autorin, basiert in den Details auf einem breiten Studium historischer Quellen, von Tagebüchern, Briefen und Aussagen von Augenzeugen und Zeitgenossen. Es exemplifiziert,  kurzum, eine dichte, eine glaubhafte, eine recht echte Lebensrealität und Denkweise. 

Und der Roman spiegelt eine  – offensichtlich heute wieder stark anwachsende  – Wahrnehmung von Unverständnis, Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit offizieller politischer und behördlicher Instanzen gegenüber dem nackten Leben und den elementaren Bedürfnissen von einzelnen Menschen und der Achtung von Minderheiten. Tom Monderath macht eine Erfahrung, die ihn total erschüttert, als er endlich mit Robert Cooper sprechen kann. Er will von dem früheren G.I. wissen, warum er denn Greta damals so schmählich allein gelassen hat. Das kann Robert Cooper mit den militärischen Schikanen der   plötzlichen Versetzung an ferne Standorte erklären. Auf die Anschlussfrage, wieso er dann Greta nie geschrieben habe, ob seine Liebe erkaltet und er seine Wertschätzung des Mädchens verloren habe, erhält er eine überraschende Antwort: Greta sei für ihn nach wie vor die beste Frau, der er je begegnet sei, Er hat es Greta, wie Tom erfahren musste,  auch in Briefen immer wieder versichert, die er an ihre Heidelberger Heimatadresse schickte. Sie haben Greta jedoch nie erreicht. Sie sind offensichtlich von ihrer Familie unterschlagen worden – so wie die Briefe, die sie an Robert Coopers Heimatadresse  in New Orleans richtete. Und er hat Greta erst nicht mehr geschrirben, nachdem Gretas Mutter ihn im Sommer 1953 abweisend wissen ließ, Greta sei verheiratet und die gemeinsame Tochter von einer unbekannten Famile in den USA adoptiert worden. Und die Briefe, die Tom nach Jahrzehnten im Heidelberger Jugendamt ausgehändigt werden, sind ausschließlich diejenigen Briefe, die Greta ihrer Tochter Marie schrieb – in der Hoffnung, das das Kind irgendwann nach seiner leiblichen Mutter suchen würde: Auch sie sind offenkundig widerrechtlich daheim abgefangen – von der eigenen Familie, die sich also in den offiziellen Täterkreis einfügt und Greta der letzten Möglichkeiten beraubt, einen Ausweg aus ihrem posttraumatischen Belastungsstress zu finden. Toms Bild von der Depression seiner Mutter, für die er sich selbst schuldig fühlte, aber wird mit alledem endgültig korrigiert.

Diese Briefe, die ihm das Jugendamt aushändigen musste, haben seine Vorstellung von der liebesunfähigen Mutter endgültig revidiert. Und angesichts der tiefen Liebe und aufopfernden Fürsorge Coopers, der ihn nach Deutschland begleitete, um Greta in der Demenz beizustehen, hat Tom Monderath seine traumatischen Bindungsängste verloren. Es ist kein Ende, um den Roman zu einem effektvollen, rührenden Abschluss zu bringen – es liest sich wie ein Märchen, wie ein Wunder, das die einfache Humanität armer, manipulierter und verachteter Menschen unterstreicht, um die es in diesem Roman geht.

Mir ist kein Roman aus jüngster Zeit bekannt, der so klar von der Würde des Menschen und sein Anrecht  auf die Achtung seiner Existenz erzählt wie Susanne Abels „Stay Away from Gretchen“. Unser noch immer starker unabhängiger Buchhandel und die Mund-zu- Mund- Propaganda überzeugter Leserinnen und Lesern hat diesen Roman zu einem wirkungsvollen hochliterarischen Titel im schlichten Gewand einer Sprache gemacht, die alle verstehen können.

Gerhard Beckmann  

Susanne Abel: Stay Away from Gretchen. Eine unmögliche Liebe. Dtv, München 2021. 528 Seiten, gebunden, 20 Euro. 


Gerhard Beckmann,
 den wir als regelmäßigen Mitarbeiter von CulturMag mit Freude an Bord haben, ist eine der profiliertesten Menschen der deutschen Verlagsszene. Seine Kolumne „Beckmanns Große Bücher“ im Buchmarkt stellt kontinuierlich wirklich wichtige Bücher mit großer Resonanz vor. Seine Texte 
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