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RIGOLETTO

 

Im Jahr 1850 hatte Verdi bereits 15 Opern komponiert und war im Alter von erst 37 Jahren bereits einer der bekanntesten und erfolgreichsten Opernkomponisten Italiens. Die letzten Jahre waren aufgrund der Revolutionen stürmisch gewesen; gerade hatten sich Mailand, Florenz, Rom und Venedig aus der Abhängigkeit vom Vatikan oder von Österreich gelöst. Nicht weniger als 19 verschiedene literarische Vorlagen hatte Verdi als mögliche Opernstoffe in seinem Notizbuch eingetragen; die ersten Plätze besetzten Shakespeares Hamlet, Der Sturm und König Lear, Platz vier Kean von Byron, Le roi s’amuse von Victor Hugo – die Vorlage zu Rigoletto – folgte auf Platz fünf. Weitere Plätze besetzten u.a. Il trovatore und Die Kameliendame, die beide unmittelbar nach Rigoletto vertont wurden.

Für das Libretto zu Rigoletto sollte ursprünglich Salvatore Cammarano verpflichtet werden, der bereits für Verdi Alzira und für Donizetti Lucia di Lammermoor gedichtet hatte (später auch den größten Teil von Il Trovatore), am Ende wurde aber Francesco Piave beauftragt, der im Teatro La Fenice zu Venedig tätig war und für Verdi die Libretti zu Ernani, I due Foscari, Macbeth, Attila, Il Corsaro und Stifelio schrieb. In Teatro La Fenice (wo bereits Ernani und Attila, später auch La Traviata und SimonBoccanegra uraufgeführt wurden) fand am 11. März 1851 die Uraufführung von Rigoletto statt.

Bereits im Anfangsstadium dachte Verdi an Felice Varesi als Darsteller für den Hofnarren Rigoletto. Varesi war kleinwüchsig und ziemlich häßlich, aber ein hervorragender Darsteller, der bereits 1847 in Florenz mit Verdis Macbeth triumphierte. Verdi sah in Triboletto (wie Rigoletto ursprünglich hieß) eine Figur, die „eines Shakespeare würdig ist“ und fand „gerade prachtvoll ein äußerlich verunstaltete und lächerliche Figur auf die Bühne zu bringen, die innerlich voll Leidenschaft und Liebe ist. Gerade um dieser Idee willen habe ich den Stoff gewählt“. Nachdem Verdi die vom venezianischen Theater vorgeschlagene Sängerin für die Rolle der Gilda abgelehnt hatte, schlug er zwei andere Darstellerinnen vor: „Augustina Boccabadati könnte mir mehr als die Brambilla gefallen, da sie etwas dramatischer ist" schrieb Verdi. Die Boccabadati hatte ihn in Luisa Miller überzeugt, Brambilla (die dennoch am Ende die Uraufführung gesungen hat) war international bekannt. Sie war gewiß kein Koloratursopran, sondern eine virtuose Sopranistin und sang u.a. die Abigaile (Nabucco) in Paris. Betrachtet man den heutigen Geschmack, die Partie der Gilda mit sehr leichten und vor allem „weißen“ Stimmen zu besetzen, noch dazu die Neigung, diese durch ständige piani ihre Stimmen nicht einmal entfalten zu lassen, erweist sich diese Praxis als absurd: Verdi wollte eine Stimme, die noch etwas dramatischer als die Gilda seiner Uraufführung war!

Für die Partie des Duca wurde Raffaele Mirate , ein erfahrener Verdi-Sänger verpflichtet. Die Partie der Maddalena wurde von Annetta Casaloni übernommen. Ihr Kollege (und erster Rigoletto) Varesi schrieb über sie: „ein schönes Stück Fleisch mit herkulischen Formen; sie hat eine robuste, aber gutturale und für Modulationen wenig geeignete Stimme. Aus ihr könnte vielleicht was werden, sie müßte aber vieles von Grund auf studieren, um ihre Gesangsmethode zu verfeinern und ihr ganzes Auftreten, das noch nichts künstlerisches hat ... Diese Dame hat in Milano aus guten Gründen viele Gönner, deshalb macht sie sich durch Intrigen größer als sie verdient“. Ob der liebe Kollege nicht etwas übertreibt, ist nicht bekannt. Die Casaloni wurde später eine berühmte Azucena, hatte also ebenfalls eine dramatische Stimme.

Wichtig scheint mir die Tatsache, daß Verdi trotz Änderungen im Text und Titel des Werkes seine ursprüngliche musikalische Konzeption behalten hat. Von Le roi s’amuse über La maledizione zu Il Duca di Vendome (so die drei ursprüngliche Textfassungen) bis Rigoletto blieb Verdis musikalische Konzeption auf La maledizione (Der Fluch) konzentriert, sich auf Hugos Einleitung zum Werk stützend: „Der Vater [bei Verdi: Monterone] verflucht Triboulet [bei Verdi: Rigoletto]. Daraus entfaltet sich das ganze Stück. Das wahre Thema des Dramas ist der Fluch“ – so Hugo. Verdi schrieb an Piave: „Das ganze Thema ist dieser Fluch, der auch eine moralische Dimension hat. Ein unglücklicher Vater, der die verlorene Ehre seiner Tochter beklagt, vom Hofnarren belacht wird und diesen verflucht, und es ist dieser Fluch der auf eine schlimme Art den Hofnarren trifft ... Ich wiederhole es, das Thema ist der Fluch“. Und dieser wird als Leitmotiv das Stück anfangen, von Trompete und Posaune gespielt. Wichtig zu bemerken, daß dieser Motiv sich nicht allgemein auf „Fluch“ bezieht, sondern spezifisch auf den Fluch über Rigoletto.

Rigoletto wurde wegen Zensur unter der phantasievollsten Titeln in den verschiedenen Länder präsentiert, wie Viscardello, Clara di Perth oder Lionello. Verdi bezeichnete seinen Rigoletto als seine beste Oper (an De Santis) und dem Librettisten Piave gegenüber als revolutionär – und das nachdem seine nächsten Opern, Il Trovatore und La Traviata bereits komponiert waren. Den Schlüssel zur strukturellen Konzeption seines Werkes liefert uns Verdi in einem Brief an Borsi, der um eine Extra-Arie für seine Frau bat. Verdi lehnte ab und erklärte ihm, daß Rigoletto fast ohne Arien und Finali, dafür aber als eine unendliche Kette von Duetten konzipiert ist! Es gibt also ein formelles Konzept das die gesamte Komposition durchzieht.

Ein Jahr nach der Uraufführung ersetzte Mirate, der erster Darsteller des Duca, die Cabaletta seiner Arie („Possente amor mi chiama“) durch die Cabaletta aus eine andere Oper Verdis („Non ti codarde lagrime“ aus Alzira); im deutschen Raum wurde oft das Schlußduett Rigoletto-Gilda einfach ausgelassen. Es ist ein Glück das solche Praktiken nicht als „Tradition“ erhalten geblieben sind. Andere solche „Traditionen“ sind aber doch erhalten und betreffen die Tempi.

Obwohl Verdi mit ausführlichen Tempoangaben die richtige Wiedergabe sichern wollte, es ist „Tradition“ geworden diese systematisch zu mißachten. Tempoangaben sind nicht Geschmackssache sondern architektonische, formbildend Parameter. Und obwohl es immer noch Ignoranten gibt die Verdis Musik als „um-ta-ta“ bezeichnen, muß sich ein ernsthafter Interpret heute nicht schämen, Verdis Anweisungen genauso ernst wie Beethovens zu nehmen.

Daß die Tempoanweisungen mit der kompositorischen Architektur zusammenhängen, sollen wenige Beispiele klar zeigen: Ist es nicht eine tragische Ironie, daß das gleiche Tempo für Gildas Arie „Caro nome“ (wo sie Ihre Liebe zum verkleideten Duca ausdrückt) und Rigolettos „Larà, lalà“ (wo sich Rigoletto in tiefster Verzweiflung vor den Höflingen zu verstellen versucht, um Gildas Spuren zu suchen) steht? Oder ist es nicht ein musikdramaturgischer Bogen gespannt, wenn Gildas Arie das gleiche Tempo hat wie später Ihre Erzählung über die Begegnung mit dem Duca („tutte le feste“) und ebenso „Cortigiani“, Rigolettos Ausbruch gegen die Höflinge?

Eine der wichtigsten Errungenschaften Verdis in Rigoletto ist die systematische Erschaffung von psychischen Landschaften und Klangräume die sich vom realen Ort und Zeitfluß der Handlung deutlich unterscheiden. Diese Unterscheidung ist gleich am Anfang der Komposition hörbar: Das orchestrale Vorspiel symbolisiert den Fluch, der sich erhebt und mit Gewalt Rigoletto zerschmettern wird. Dieses wird durch die wortlose Musik ausgedrückt. Sobald die reale Welt mit dem Fest des Duca einbricht, läßt Verdi diese nicht vom selben Orchester, das gerade den „Fluch“ darstellte, sondern - klangräumlich deutlich getrennt - von der Bühnenmusik begleiten. Das Duett Rigolettos mit seinem alter-ego Sparafucile (charakteristisch für die Begegnungen der beiden ist die Begleitung durch tiefe Instrumente; die chromatischen Merkmale der Musik lassen sich später auch im Duett Philipp-Inquisitor in Don Carlo finden) und der anschließende Monolog „Pari siamo“ ereignen sich nicht im realen Zeitraum, sondern sind Einblicke in einem Psychokosmos, der sich hinter der Realität birgt.

Am stärksten aber sind die Psychoräume im gesamten dritten Akt zu sehen, wo verschiedene Ebenen aufeinander stoßen. Gleich die Einleitung des Orchesters, wie ein altertümlicher, modaler Choral, versetzt uns - jenseits der musikalisch aktuellen Dur/Moll Tonleiter – durch Klänge früheren Musikepochen in apokalyptischen Welten der mittelalterlichen Phantasie. Die wüste Klanglandschaft, wo das Singen in hastige Rezitative verschmilzt, erinnert mich an die kargen und dürren Landschaften Dalis mit den geschmolzenen Uhren. Ebenso surrealistisch klingt die Begleitung der 4. Szene im gleichen Akt, die an das alte Bourdon, die Drehleiermusik erinnert. Burgund (von dort stammt Sparafucile) war ein Zentrum des Drehleierspiels im 19. Jahrhundert und Verdi ließ sich gewiß davon inspirieren. Aber die Drehleier wird oft in der bildenden Kunst von Blinden und Krüppeln gespielt (z.B. Stiche von Callot und Bellange). Die Blindheit Rigolettos, nicht die physische (wie durch eine Binde bei der Entführung von Gilda) sondern die psychische, ist hier genial thematisiert. Und die populäre Arie des Duca „La donna è mobile“ klingt in einem solchen musikalischen Kontext anders als bei den Konzerten der „Drei Tenöre“.

Verdi hatte gewiss recht, seine Oper als revolutionär zu bezeichnen. Ganz genau notierte er jede kleine Schwankung der Tempi und mit großen Differenzierungen jede dynamische Angabe. Genau so wie ein „forte“ oder „piano“ nicht durch physikalische sondern psychologische Werte zu bestimmen sind, bleiben die Metronomangaben ebenso als Proportionen, die vom Moment und seinen psychologisch-physischen Parametern wie Akustik und sängerischer Verfassung abhängig sind. Dem heutigen Interpreten obliegt es, die Architektur der seelischen Zustände aufmerksam zu studieren und bei jeder Wiedergabe von neuem sich entfalten zu lassen, jedes Mal wie ein erstes Mal.