© Helmut Fricke / F.A.Z.Liest du noch oder bingst du schon?
Buchmarkt? Uff, oje, schwierig, seufzt die Branche, und nennt dann sogleich ein paar vielzitierte Zahlen: minus zwölf Prozent beim Buchabsatz seit 2010, siebenkommadrei Millionen weniger Leser, und es schrumpft quer durch die Geschlechter und Bevölkerungsschichten. Besonders die Dreißig- bis Fünfzigjährigen sind Sorgenkinder, denn sie setzen sich nach dem harten Bürotag lieber vor Netflix und gucken Serien.
Doch die Lage ist, so wie es der Journalist Daniel Lenz auf der Selfpublisher-Plattform beim Panel „Der Kampf um die Leser“ referiert, nicht nur verheerend. Es gab immerhin kein großes Buchhandlungssterben, und die Buchpreisbindung hilft, den Riesen Amazon in Schach zu halten. Die alten Strukturen gibt es noch, ebenso wie die meisten der guten alten Buchläden an der Ecke. Aber was macht man nun, damit das so bleibt? Und da setzt nun die große Hilflosigkeit ein, denn alle ahnen, dass das Buch von den neun bis zehn Stunden Netto-Medienzeit, die einem Menschen pro Tag zur Verfügung stehen, immer weniger abbekommt und das Internet immer mehr. Und in der Kantine reden mittags wieder alle über die Serien, die sie letztens bei Netflix geschaut haben, und kaum noch über Bücher. Die Serie ist sozial anschlussfähig. Doch auch Bücher müssten wieder „hip“ werden, Bücher müssten „gehypt“ werden, sagt Lenz, und dann fallen ihm immer mehr schlimme Vokabeln dazu ein. „Vertikale Plattformen“ zum Beispiel, auf denen Leser entsprechend ihres Genregeschmackes bedient werden.
Der Geschäftsführer von Book on Demand, Gerd Robertz, ventilierte gute Laune und eine Liebe zur Nische. Die Branche solle sich auf die positiven Dinge besinnen und Angebote liefern für Menschen, die sich für Geschichten begeistern, sagte er, was wohl leichter gesagt ist als getan. Auch glaubt er, dass die Grenzen zwischen Verlags- und Selfpublishingtiteln verschwinden werden und neue Strukturen entstehen.
Auch Natalja Schmidt von DroemerKnaur möchte das Rad nicht zurückdrehen. „Wir müssen die Leser erst einmal wieder verstehen lernen und ihnen dann die passenden Angebote machen“, sagt sie. Da sei der Buchmarkt auch oft noch zu langsam. Die Leser seien ein schnelleres Angebot gewohnt und möchten, in Anlehnung an den Netflix-Serienkonsum, „bingen“. Das gilt naturgemäß stärker für den Belletristikbereich als für den der Feuilleton-Literatur, so ein Handke bingt sich eher schwergängig weg. Es gilt wohl für das, was Lenz „snackable content“ nennt.
Okay, bingen also. Von Netflix lernen heißt siegen lernen, dachte sich Natalja Schmidt und hatte eine Idee, die sie wenige Stunden später noch einmal auf dem Podium des Börsenvereins vortragen dufte. Der Fantasyautor Markus Heitz, mit hinreichend starker Fanbase versehen und damit kein allzu großer Risikofaktor, schreibt einen Piloten von achtzig Seiten, der in Buch- und elektronischer Form kostenlos unters Volk gebracht wird. Am Ende dieser Pilotfolge stehen ein paar Wissenschaftler, die eine verschwundene junge Frau suchen sollen, vor drei Türen, und zu jeder dieser Türen gibt es einen parallelen Roman. Man kann die drei nun einzeln oder hintereinander lesen (oder bingen), wie man will. Und wenn diese Idee namens „Doors“ Anklang findet, gibt es eine zweite Staffel, bei deren Umsetzung die Leser auch einiges mitbestimmen dürfen.
„Leuchtfeuer für Leser: Wie es der Branche gelingen kann, verlorene Leser zurückzuholen“, betitelt der Börsenverein sein Panel, aber darüber redet dann wieder keiner. Sondern nur Natalja Schmidt über ihr „Doors“-Projekt, und Juliane Reichwein von Holtzbrinck über die Plattform zusammenlesen.de, die sich an Lesekreise wendet. Dort kann man nach Lesekreisen in der Nähe suchen, seinen Kreis eintragen lassen und bekommt zusätzlich Material geliefert. Auch Buchhandlungen werden mit Angeboten und Aktionen versorgt. Hübsch. Aber wie soll all das verlorene Leser zurückgewinnen? Wendet man sich da nicht eher an die Leser, die es ohnehin schon gibt?
Ungefähr das befand auch Robert Görlich in seinem Fachvortrag im Raum mit dem schönen Namen „Effekt“. Mit seinem Unternehmen juni.com entwickelt er Spezialsoftware für Verlage, er hat also ein gewisses Interesse daran, dass sein Kundenstamm prosperiert. Er sieht die apokalyptischen Zahlen vor allem als Aufforderung, umzudenken. Und fordert die Verlage auf, mehr zu experimentieren, keine Angst vor neuer Technik zu haben und nicht gleich abzuhaken, wenn etwas im ersten Anlauf nicht sofort rund läuft. Ja, das liebe Mindset, da hänge es bei den Verlagen noch, deutet Görlich an. Und stellt dann ein paar Modelle vor, wie man die Unternehmenskultur bei der Entwicklung neuer Produkte workflowmäßig ein bisschen durchrütteln kann: Trial and Error, Rapid Prototyping, Design Thinking.
Zwischen gezielter Prozessoptmimierung im Verlag und den frommen Wunsch, die Leser für gute Geschichten zu begeistern, passt eine Menge totes Holz. Viel Kampf und viel Leuchtfeuer sieht man derzeit jedenfalls nicht. Man kann sich des Eindrucks einer gewissen Hilflosigkeit nicht erwehren, wenn man die Branche so im Nebel stochern sieht und mal hier und mal da einen Testballon steigen lässt. Und vielleicht sind auch gar nicht die Verlage das Problem und nicht der Ort, etwas zu verändern. Vielleicht müssen wir einmal grundsätzlich über Arbeit und Freizeit nachdenken und darüber, warum wir abends nach dem Bürotag so platt sind, dass nur noch Netflix geht.