Sozialdemokratische Partei Deutschlands

Das Heidelberger Programm

(1925)


Beschlossen auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Heidelberg im Jahre 1925.
Zuerst ver�ffentlicht in: Sozialdemokratischer Parteitag 1925 in Heidelberg, Protokoll mit dem Bericht der Frauenkonferenz, Berlin 1925.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan f�r das Marxists’ Internet Archive.


Die �konomische Entwicklung hat mit innerer Gesetzm��igkeit zum Erstarken des kapitalistischen Gro�betriebes gef�hrt, der in Industrie, Handel und Verkehr immer mehr den Kleinbetrieb zur�ckdr�ngt und seine soziale Bedeutung verringert. Mit der immer st�rker werdenden Entfaltung der Industrie w�chst die industrielle Bev�lkerung st�ndig im Verh�ltnis zur landwirtschaftlichen. Das Kapital hat die Massen der Produzenten von dem Eigentum an ihren Produktionsmitteln getrennt und den Arbeiter in einen besitzlosen Proletarier verwandelt. Ein gro�er Teil des Grund und Bodens befindet sich in den H�nden des Gro�grundbesitzes, des nat�rlichen Verb�ndeten des Gro�kapitals. So sind die �konomisch entscheidenden Produktionsmittel zum Monopol einer verh�ltnism��ig kleinen Zahl von Kapitalisten geworden, die damit die wirtschaftliche Herrschaft �ber die Gesellschaft erhalten.

Zugleich w�chst mit dem Vordringen der Gro�betriebe in der Wirtschaft Zahl und Bedeutung der Angestellten und Intellektuellen jeder Art. Sie �ben in dem vergesellschafteten Arbeitsproze� die Leitungs-, �berwachungs-, Organisations- und Verteilungsfunktionen aus, sie f�rdern durch wissenschaftliche Forschung die Produktionsmethoden. Mit dem Anwachsen ihrer Zahl verlieren sie immer mehr die M�glichkeit des Aufstiegs in privilegierte Stellungen, und ihre Interessen stimmen in steigendem Ma�e mit denen der �brigen Arbeiterschaft �berein.

Mit der Entwicklung der Technik und der Monopolisierung der Produktionsmittel w�chst riesenhaft die Produktivit�t der menschlichen Arbeit. Aber Gro�kapital und Gro�grundbesitz suchen die Ergebnisse des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses f�r sich zu monopolisieren. Nicht nur den Proletariern, sondern auch den Mittelschichten wird der volle Anteil an dem materiellen und kulturellen Fortschritt vorenthalten, den die gesteigerten Produktivkr�fte erm�glichen.

Ununterbrochen sind im Kapitalismus Tendenzen wirksam, die arbeitenden Schichten in ihrer Lebenshaltung zu dr�cken. Nur durch steten Kampf ist es ihnen m�glich, sich vor zunehmender Erniedrigung zu bewahren und ihre Lage zu verbessern. Dazu gesellt sich hochgradige Unsicherheit der Existenz, die stets drohende Arbeitslosigkeit. Diese wird besonders qualvoll und erbitternd in Zeiten der Krisen, die jedem wirtschaftlichen Aufschwung folgen und in der Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise begr�ndet sind. Das kapitalistische Monopolstreben f�hrt zur Zusammenfassung von Industriezweigen, zur Verbindung aufeinanderfolgen der Produktionsstufen und zur Organisierung der Wirtschaft in Kartelle und Trusts. Dieser Proze� vereinigt Industriekapital, Handelskapital und Bankkapital zum Finanzkapital.

Einzelne Kapitalsgruppen werden so zu �berm�chtigen Beherrschern der Wirtschaft, die nicht nur die Lohnarbeiter, sondern die ganze Gesellschaft in ihre �konomische Abh�ngigkeit bringen.

Mit der Zunahme seines Einflusses benutzt das Finanzkapital die Staatsmacht zur Beherrschung ausw�rtiger Gebiete als Absatzm�rkte, Rohstoffquellen und St�tten f�r Kapitalsanlagen. Dieses imperialistische Machtbestreben bedroht die Gesellschaft st�ndig mit Konflikten und mit Kriegsgefahr. Doch mit dem Druck und den Gefahren des Hochkapitalismus steigt auch der Widerstand der stets wachsenden Arbeiterklasse, die durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst, sowie durch stete Arbeit der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei geschult und vereint wird. Immer gr��er wird die Zahl der Proletarier, immer schroffer der Gegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, immer erbitterter der Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Beherrschern der Wirtschaft und den Beherrschten. Indem die Arbeiter klasse f�r ihre eigene Befreiung k�mpft, vertritt sie das Gesamtinteresse der Gesellschaft gegen�ber dem kapitalistischen Monopol. Eine gewaltig erstarkte Arbeiterbewegung, gro� geworden durch die opferreiche Arbeit von Generationen, stellt sich dem Kapitalismus als ebenb�rtiger Gegner gegen�ber. M�chtiger denn je ersteht der Wille, das kapitalistische System zu �berwinden und durch internationalen Zusammenschlu� des Proletariats, durch Schaffung einer internationalen Rechtsordnung, eines wahren Bundes gleichberechtigter V�lker, die Menschheit vor kriegerischer Vernichtung zu sch�tzen.

Das Ziel der Arbeiterklasse kann nur erreicht werden durch die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum. Die Umwandlung der kapitalistischen Produktion in sozialistische f�r und durch die Gesellschaft betriebenene Produktion wird bewirken, da� die Entfaltung und Steigerung der Produktivkr�fte zu einer Quelle der h�chsten Wohlfahrt und allseitiger Vervollkommnung wird. Dann erst wird die Gesellschaft aus der Unterwerfung unter blinde Wirtschaftsmacht und aus allgemeiner Zerrissenheit zu freier Selbstverwaltung in harmonischer Solidarit�t emporsteigen.

Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern notwendigerweise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihren �konomischen Kampf nicht f�hren und ihre wirtschaftliche Organisation nicht voll entwickeln ohne politische Rechte. In der demokratischen Republik besitzt sie die Staatsform, deren Erhaltung und Ausbau f�r ihren Befreiungskampf eine unerl��liche Notwendigkeit ist. Sie kann die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht bewirken, ohne in den Besitz der politischen Macht gekommen zu sein.

Der proletarische Befreiungskampf ist ein Werk, an dem die Arbeiter aller L�nder beteiligt sind. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist sich der internationalen Solidarit�t des Proletariats bewu�t und entschlossen, alle Pflichten zu erf�llen, die ihr daraus erwachsen. Dauernde Wohlfahrt der Nationen ist heute nur erreichbar durch ihr solidarisches Zusammenwirken.

Die Sozialdemokratische Partei k�mpft nicht f�r neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern f�r die Abschaffung der Klassenherrschaft und der Klassen selbst, f�r gleiche Rechte und Pflichten aller, ohne Unterschied des Geschlechts und der Abstammung. Von dieser Anschauung ausgehend, bek�mpft sie nicht blo� die Ausbeutung und Unterdr�ckung der Lohnarbeiter, sondern jede Art der Ausbeutung und Unterdr�ckung, richte sie sich gegen ein Volk, eine Klasse, eine Partei, ein Geschlecht oder eine Rasse.

Den Befreiungskampf der Arbeiterklasse zu einem bewu�ten und einheitlichen zu gestalten und ihm sein notwendiges Ziel zu weisen, ist die Aufgabe der Sozialdemokratischen Partei. Inst�ndigem Ringen und Wirken auf politischem, wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet strebt sie zu ihrem Endziel.

Aktionsprogramm

Verfassung

Die demokratische Republik ist der g�nstigste Boden f�r den Befreiungskampf der Arbeiterklasse und damit f�r die Verwirklichung des Sozialismus. Deshalb sch�tzt die Sozialdemokratische Partei die Republik und tritt f�r ihren Ausbau ein. Sie fordert:

Das Reich ist in eine Einheitsrepublik auf Grundlage der dezentralisierten Selbstverwaltung umzuwandeln. Auf dem organisch neu zu gliedernden Unterbau der Gemeinden und L�nder erhebt sich eine starke Reichsgewalt, die in Gesetz und Verwaltung die f�r eine einheitliche F�hrung und den Zusammenhalt des Reiches notwendigen Befugnisse besitzt.

Ausdehnung der unmittelbaren Reichsverwaltung auf die Justiz: Alle Gerichte werden Gerichte des Reichs. F�r die Sicherheitspolizei sind im Wege der Gesetzgebung einheitliche Grunds�tze aufzustellen. Eine einheitliche Reichskriminalpolizei ist zu schaffen.

Abwehr aller monarchistischen und militaristischen Bestrebungen, Umgestaltung der Reichswehr zu einem zuverl�ssigen Organ der Republik.

Vollst�ndige Verwirklichung der verfassungsm��igen Gleichstellung aller Staatsb�rger ohne Unterschied des Geschlechts, der Herkunft, der Religion und des Besitzes.

Verwaltung

Ziel der sozialdemokratischen Verwaltungspolitik ist die Ersetzung der aus dem Obrigkeitsstaat �bernommenen polizeistaatlichen Exekutive durch eine Verwaltungsorganisation, die das Volk auf Grundlage der demokratischen Selbstverwaltung zum Tr�ger der Verwaltung macht. Darum wird gefordert:

Den �rtlichen und provinzialen Besonderheiten ist im Wege der Rahmengesetzgebung Spielraum zu lassen.

Ein reichsrechtliches Landesverwaltungsgesetz regelt gleichm��ig f�r alle L�nder die Gliederung und die Zust�ndigkeit der staatlichen Verwaltungsbezirke und der Verwaltungsorgane.

Eine Reichsgemeindeordnung hat f�r Gemeinden und Gemeindeverb�nde (Landgemeinden, St�dte, Kreise, Provinzen) einheitliches Recht zu schaffen. Das Einkammersystem ist f�r alle Selbstverwaltungsk�rper durchzuf�hren. Die Wahl der B�rgermeister ist auf Zeit festzusetzen. Die Selbstverwaltungsk�rper erledigen die Gesch�fte ihres Verwaltungsbereiches im Rahmen der Reichs- und Landesgesetze selbst�ndig und unter eigener Verantwortung. F�r Fragen von allgemeinem �ffentlichen Interesse sind Volksbegehren und Volksabstimmung in den Gemeinden einzuf�hren.

Die Rechtskontrolle �ber die Verwaltung, insbesondere der Schutz des Staatsb�rgers gegen die in seine Rechtssph�re eingreifenden Verwaltungsakte, ist durch unabh�ngig im Instanzen weg gegliederte Verwaltungsgerichte zu gew�hrleisten. Das Reichsverwaltungsgericht hat gleichzeitig die Aufgabe eines Oberverwaltungsgerichts in allen Landessachen.

Durch ein Reichskommunalisierungs- und ein Reichsenteignungsgesetz sind den Gemeinden und Gemeindeverb�nden die f�r die Durchf�hrung und Ausdehnung der kommunalen Gemeinwirtschaft erforderlichen Befugnisse und Macht mittel einzur�umen. Die Form der Verwaltung ist so zu gestalten, da� einerseits die Betriebe in ihrer Wirtschaftsf�hrung von bureaukratischen Fesseln befreit werden, andererseits aber das unbeschr�nkte Bestimmungsrecht der �ffentlichen K�rperschaften gewahrt bleibt.

F�r alle Beamten und Angestellten der �ffentlichen K�rperschaften ist ein einheitliches Dienstrecht zu schaffen, das Auswahl, Stellung, Bef�rderung, Interessenvertretung und Schutz nach demokratischen und sozialen Gesichtspunkten ordnet.

Justiz

Die Sozialdemokratische Partei bek�mpft jede Klassen- und Parteijustiz und tritt ein f�r eine mit sozialem Geiste erf�llte Rechtsordnung und Rechtspflege unter entscheidender Mitwirkung gew�hlter Laienrichter in allen Zweigen und auf allen Stufen der Justiz.

Insbesondere fordert sie:

Sozialpolitik

Der Schutz der Arbeiter, Angestellten und Beamten und die Hebung der Lebenshaltung der breiten Massen erfordern:

Kultur- und Schulpolitik

Die Sozialdemokratische Partei erstrebt die Aufhebung des Bildungsprivilegs der Besitzenden.

Erziehung, Schulung und Forschung sind �ffentliche Angelegenheiten; ihre Durchf�hrung ist durch �ffentliche Mittel und Einrichtungen sicherzustellen. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, Unentgeltlichkeit der Lehr- und Lernmittel, wirtschaftliche Versorgung der Lernenden.

Die �ffentlichen Einrichtungen f�r Erziehung, Schulung, Bildung und Forschung sind weltlich. Jede �ffentlich-rechtliche Einflu�nahme von Kirche, Rehgions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf diese Einrichtungen ist zu bek�mpfen. Trennung von Staat und Kirche, Trennung von Schule und Kirche, weltliche Volks-, Berufs- und Hochschulen. Keine Aufwendung aus �ffentlichen Mitteln f�r kirchliche und religi�se Zwecke.

Einheitlicher Aufbau des Schulwesens, Herstellung engster Beziehungen zwischen Werkarbeit und geistiger Arbeit auf allen Stufen.

Gemeinsame Erziehung beider Geschlechter durch beide Geschlechter. Einheitliche Lehrerbildung auf Hochschulen.

Finanzen und Steuern

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands fordert eine grundlegende, umfassende Finanzreform, die auf dem Prinzip der Quellenbesteuerung und der Lastenverteilung nach der wirtschaftlichen Leistungsf�higkeit aufgebaut ist.

Insbesondere:

Wirtschaftspolitik

Im Kampf gegen das kapitalistische System fordert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands:

Internationale Politik

Als Mitglied der Sozialistischen Arbeiter-Internationale k�mpft die Sozialdemokratische Partei Deutschlands in gemeinsamen Aktionen mit den Arbeitern aller L�nder gegen imperialistische und faschistische Vorst��e und f�r die Verwirklichung des Sozialismus.

Sie tritt mit aller Kraft jeder Versch�rfung der Gegens�tze zwischen den V�lkern und jeder Gef�hrdung des Friedens entgegen.

Sie fordert die friedliche L�sung internationaler Konflikte und ihre Austragung vor obligatorischen Schiedsgerichten.

Sie tritt ein f�r das Selbstbestimmungsrecht der V�lker und f�r das Recht der Minderheiten auf demokratische und nationale Selbstverwaltung.

Sie widersetzt sich der Ausbeutung der Kolonialv�lker, der gewaltsamen Zerst�rung ihrer Wirtschaftsformen und ihrer Kultur.

Sie verlangt die internationale Abr�stung.

Sie tritt ein f�r die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europ�ischen Wirtschaftseinheit, f�r die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa, um damit zur Interessensolidarit�t der V�lker aller Kontinente zu gelangen.

Sie fordert die Demokratisierung des V�lkerbundes und seine Ausgestaltung zu einem wirksamen Instrument der Friedenspolitik.


Leztztes Update: 15.10.2003