Juden
Als Juden und Jüdinnen (hebräisch יְהוּדִים jehudim, יהודיות jehudot) bezeichnet man Menschen, die zum Judentum und/oder zur jüdischen Religion gehören. Die Halacha (das jüdische Religionsrecht) definiert von einer jüdischen Mutter geborene oder zum Judentum übergetretene Menschen als Juden. Teile des Judentums betrachten zudem Kinder eines jüdischen Vaters und einer nichtjüdischen Mutter als Juden und erleichtern ihnen den Übertritt. Religiöse wie nichtreligiöse Juden verstehen sich oft als Teil des jüdischen Volkes, einer durch Abstammung und Geschichte verbundenen Schicksalsgemeinschaft.
Bezeichnungen
„Israel“
Die später als Juden bezeichnete ethnisch-religiöse Gruppe erscheint historisch unter dem Namen „Israel“ (hebräisch ישראל Jisra'el), zuerst belegt auf der ägyptischen Merenptah-Stele (1208 v. Chr.). Im Tanach, der hebräischen Bibel, verleiht der Gott JHWH diesen Namen dem Stammvater Jakob (Gen 32,29 EU), der ihn an die von ihm abstammenden Zwölf Stämme Israels vererbt. Ab Ex 1,9 EU heißen alle ihre beim Auszug aus Ägypten befreiten Nachkommen „das Volk der Kinder Israels“ oder „das Volk der Israeliten“. „Israel“ hieß dieses Volk und sein Gebiet biblisch auch als Königreich unter Saul, David und Salomo. Nach der Teilung dieses Reichs behielt das größere Nordreich Israel den Namen, außerbiblisch belegt unter anderem auf der Mescha-Stele. Nach dessen Untergang (722/720 v. Chr.) bezeichnete vor allem die biblische Prophetie das verbliebene Südreich Juda und dessen ins Babylonische Exil (587–539 v. Chr.) deportierte Bewohner als „Israel“. Auch die Gemeinschaft der Exilheimkehrer und der Staat der Hasmonäer behielten diesen Namen.[1] Im 1. Jahrhundert nannten sich die unterdrückten Bewohner der römischen Provinz Judäa und Samaria weiterhin „Volk Israel“ (Am Yisrael), um an ihre biblische Frühgeschichte zu erinnern und ihre Identität als Nachkommen der Israeliten zu bewahren.[2]
Auch das Urchristentum und sein Neues Testament (NT) nannten dieses Volk im Raum Palästina selbstverständlich „Israel“, seine Angehörigen „Israelit(en)“. Das nachbiblische rabbinische Judentum blieb sich seiner Identität mit „Israel“ auch nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 voll bewusst. Der Name bezeichnet also das biblische erwählte Gottesvolk, dessen (geografisch und politisch verschieden bestimmtes) Land und die Abstammungsgemeinschaft aller seiner Nachkommen. Darum verwendeten viele Juden und Nichtjuden die Bezeichnungen „Israel“ und „Judentum“ schon lange vor der Gründung des modernen Staates Israel 1948 synonym.[1]
Jehudi
Das deutsche Wort „Juden“ geht wie das englische Jews, das französische Juifs und die Äquivalente weiterer Sprachen auf das hebräische Wort יְהוּדִי Jehudi zurück. Es ist vom Namen Jehuda (gräzisiert Juda) abgeleitet. Dessen Wurzel j–h–d enthält eine Kurzform des Gottesnamens JHWH und bedeutet „Gott preisen, danken“. So nannte Jakobs Frau Lea laut Gen 29,35 EU ihren vierten Sohn, der zum Stammvater des größten israelitischen Stammes wurde.[3]
„Juda“ bezeichnet im Tanach daher zunächst diesen Stamm und sein Siedlungsgebiet. König David machte es zu Beginn seiner Amtszeit (~1000 v. Chr.) zum „Königreich Juda“ (2 Sam 5,5 EU), das er einige Jahre später mit den Gebieten weiterer israelitischer Stämme vereinte. Nach der Reichsteilung unter König Rehabeam umfasste das Südreich Juda auch das Gebiet des Stammes Benjamin (1 Kön 12,16–21 EU). Von da an nannte man Judas Bewohner Jehudi, gleich aus welchem Stamm sie kamen. Nach dem Untergang des Nordreichs Israel erweiterte sich die Bedeutung des Wortes. Das Buch Ester bezeichnet Mordechai aus dem Stamm Benjamin als „Jude“ (Est 2,5 EU; 5,13 EU) und seine vor einem Ausrottungsversuch gerettete Gruppe als „Volk“ und „die Juden“ (Est 8,12 EU). Das Wort umfasste auch deren Religion und die Menschen, die sich ihr anschlossen (Est 8,17 EU). So bezeichneten nun auch Nichtjuden im Achämenidenreich diese ethnische, politische und religiöse Minderheit. Dabei bezog sich Jehudi weiter auf die Bewohner der persischen Provinz Jehud im Gebiet des früheren Reiches Juda. Juden nannten sich selbst jedoch vorwiegend außerhalb ihrer Herkunftsregion Jehudi, so der zum Hofbeamten des Perserkönigs aufgestiegene Jude Nehemia.[2]
Ioudaioi
Im Hellenismus (ab ~330 v. Chr.) wurde das schon etablierte hebräische Lehnwort Jehudi zu Ioudaioi gräzisiert. So bezeichnen die Septuaginta und die Bücher der Makkabäer, später auch der jüdische Historiker Flavius Josephus und das Urchristentum die Israeliten. Das Synonym Israelites trat gegenüber Ioudaioi in diesen Texten zurück; doch der Name Israel blieb der übliche Sammelbegriff für dieses ethnisch-religiöse Kollektiv. Ioudaioi war damals vorwiegend ethnisch, nicht nur geografisch konnotiert, so dass „Judäer“ es zutreffend übersetzt. In 1 Makk 8,18-32 EU verwendete Judas Makkabäus die Ausdrücke „Israel“, „das Volk der Judäer“ und „die Judäer“ gegenüber den Römern gleichsinnig für das zuvor unterdrückte, nun Roms Beistand suchende Volk, das er vertrat. Auch in 1 Makk 13,41-43 EU erscheinen die Worte „Israel“, „das Volk“ und „Judäer“ miteinander und synonym. Die Hasmonäer nannten ihr Königreich Ioudaia (Judäa). Flavius Josephus sprach in seinen Antiquitates bis zum 11. Kapitel archaisierend vom „Volk der Israeliten“. Nachdem er deren Rückkehr aus dem Exil und die Restauration in der Perserzeit beschrieben hatte, nannte er sie ab dem 12. Kapitel immer Ioudaioi, so auch in seinen übrigen Schriften. Das Wort umfasste bei ihm die Bewohner der nun römischen Provinz Judäa und Samaria und Galiläas (Bellum Judaicum 1,21; 2,232). Die „Galiläer“ galten damals als Teil der Judäer (Contra Apionem 1,48) und wurden nur innerhalb dieses Volkes semantisch unterschieden. – Paulus von Tarsus nannte sich meist Ioudaios, so betont in Gal 2,15 EU gegenüber den „Sündern aus den Völkern“ (Gojim). In Röm 11,1 EU nannte er sich „Israelit aus dem Samen Abrahams, vom Stamm Benjamin“, in Röm 9,4.24 EU abwechselnd „Judäer“ und „Israelit“. Für Paulus waren dies also Synonyme, die alle auf das erwählte Bundesvolk verweisen. Nur Simon Bar Kochba, der Anführer des letzten Aufstandes (132–136) palästinischer Juden gegen die römische Besatzungsmacht, bezeichnete sein Volk und dessen Land ausschließlich als „Israel“; vielleicht, um sich von früheren jüdischen Vasallenkönigen der Römer abzugrenzen. Dass „Israeliten“ in der Antike eher die Selbstbezeichnung, „Judäer“ bzw. „Juden“ eher eine abfällige Fremdbezeichnung dieses Volkes war, ist somit von damaligen Quellen nicht gedeckt.[4]
Wie Ioudaioi im NT angemessen zu übersetzen ist, wurde oft diskutiert.[5] Manche verstanden das Wort ausschließlich geografisch als „Bewohner Judäas“, um diese von früheren Israeliten, damaligen Galiläern wie Jesus von Nazaret, späteren Juden und deren Religion abzurücken. Solche Versuche setzten sich in der Geschichtswissenschaft nicht durch.[6]
Im Römerreich wurde Ioudaios zu Judaeus, Plural Judaeos, latinisiert und durch das Christentum in Europa verbreitet.[2]
„Jüdisches Volk“
Unter dem „jüdischen Volk“ werden sowohl das historische Volk der Israeliten als auch, dem jüdischen Selbstverständnis gemäß, alle Juden verstanden, die nach der Tora von den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob abstammen. Deren Verheißungsgeschichte hat nach dem ersten Buch Mose (Gen 12,3 EU) einen alle Völker segnenden, sie einbeziehenden Charakter: Wer von einer jüdischen Mutter geboren ist, gilt im Talmud daher ebenso als Jude wie jemand, der zu diesem Glauben übergetreten ist, unabhängig von seiner Herkunft.[7] Seit der wiederholten Exilierung von großen Teilen der Israeliten und der Entstehung der jüdischen Diaspora bezeichnet der Ausdruck „Jüdisches Volk“ kein ethnisch einheitliches Nationalvolk mit geschlossenem Siedlungsraum mehr, wohl eine fortbestehende Abstammungsgemeinschaft mit einer gemeinsamen hebräischen Bibel.
Der Bezug auf die gemeinsame Herkunft verbindet religiöse und säkulare Juden: „Von Zugehörigkeit zum Volk Israel […] kann man jedoch auch sprechen, wenn ein Individuum kulturell oder religiös von der religiös-kulturellen Wirklichkeit der Geschichte Israels in wesentlichen Bereichen seiner Persönlichkeit als geschichtliches Wesen faktisch geprägt ist und das positiv akzeptiert.“[8]
Halacha

Nach der Halacha, dem gesammelten jüdischen Recht, das auf Mischna und Talmud basiert, gilt als Jude, wer Kind einer jüdischen Mutter ist[9] oder regelgerecht zum Judentum konvertiert ist (Gijur). Dabei ist Bedingung, dass die Mutter bei der Empfängnis Jüdin nach der Halacha war. Die Definition gilt unabhängig davon, ob oder wie sehr die Person die jüdischen Glaubensvorschriften befolgt oder nicht.
Ist nur der Vater jüdisch, so ist das Kind nach der Halacha kein Jude. Ist nur die Mutter jüdisch, so ist es Jude. Kinder jüdischer Väter, die keine jüdische Mutter haben, müssen zum Judentum konvertieren, um als Juden zu gelten.[2]
Dieser Definition folgen im Grundsatz das orthodoxe, konservative und liberale Judentum. Im amerikanischen Reformjudentum, seit Ende des 20. Jahrhunderts die größte jüdische Denomination in den USA, gilt dagegen jedes Kind als Jude, das einen jüdischen Elternteil hat, sofern es jüdisch erzogen wird.[10] Der Talmud führt die Definition der Halacha auf die Tora zurück. Dadurch entwickelte sich eine Kultur, die über lange Zeit stabil blieb und den Juden eine eigene Identität bewahrte, obwohl sie rund 1900 Jahre lang keinen eigenes Land und keinen eigenen Staat mehr hatten. Ein Jude nach der halachischen Definition könnte auch einer anderen Religion folgen. Derartige Fälle wurden allerdings über Jahrhunderte hinweg kontrovers debattiert, auch im Zusammenhang mit „Apostaten“.[2][11]
Ein weiterer Problemfall ist die Konversion aus nichtreligiösen Motiven, etwa um eine nach der Halacha gültige Heirat zu ermöglichen. Es wurde aber auch vorgeschlagen, Konversionen gelten zu lassen, bei welchen nur kein Wissen von den jüdischen Vorschriften bestand, diese aber nicht explizit abgelehnt wurden.[2]
Geschichte des Judentums
Bibel
Als Erzväter der Juden gelten im Tanach, der hebräischen Bibel, Abraham, Isaak und Jakob, die westsemitische Nomadenstämme anführten, die an unbekanntem Ort zwischen dem Mittelmeer und Mesopotamien lebten. Historische Belege für ihre Existenz gibt es nicht. Sie lebten wahrscheinlich während der Zeit der Sesshaftwerdung der Nomaden zu Beginn der Bronzezeit (ca. 1900 bis 1500 v. Chr.).
Gläubige Juden verstehen sich als Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs, mit denen JHWH einen ewigen Bund schloss. In den Erzählungen der Tora, den fünf Büchern Mose, beginnt die Geschichte des Volkes Israel mit dem Abrhamsbund (Gen 12,1-3 EU). Diesen Bund setzt Gott mit Abrahams Sohn Isaak und dessen Sohn Jakob fort, der seit dem Ringkampf am östlichen Ufer des Flusses Jabbok (Gen 32 EU) Jisrael („Israel“) genannt wurde.
Jakob hatte zwölf Söhne, die als Stammväter der Zwölf Stämme Israels (Israeliten) gelten. Diese ziehen von Kanaan, dem heutigen Palästina bzw. Israel nach Ägypten, wo ihre Nachfahren vom Pharao versklavt werden. Aus dieser Sklaverei werden die von Mosche (Moses) angeführten Hebräer durch Gott befreit, der ihnen am Berg Sinai die schriftliche und mündliche Tora offenbart. Obwohl das Volk an dieser Aufgabe häufig scheitert, was die späteren Propheten immer wieder beklagen, bleibt der Bund mit Gott ungebrochen.
Die jüdische Tradition sieht Abraham als den Begründer des Monotheismus, des Glaubens an den einzigen Gott. Frühe Textbelege finden sich im Buch der Jubiläen und in Verbindung mit einer Abraham zugeschriebenen astronomischen Expertise in Texten des hellenistischen Judentums (orphische Fragmente, Pseudo-Eupolemos, Philo von Alexandrien, Josephus) und vermittels mündlicher Überlieferung in späteren Midraschim, insbesondere Genesis Rabbah.[12] Daran knüpft die jüdische Philosophie und Theologie an, etwa die von Maimonides.
Als Stifter der jüdischen Religion gilt Mose. „Mosaische Religion“ ist ein heute kaum mehr verwendetes Synonym für die jüdische Religion. Mose ist im Judentum der höchste Prophet aller Zeiten, der Gott so nah kam wie sonst kein Mensch vorher oder seitdem. Historische Belege für die Existenz Mose fehlen jedoch. In der Bibel führt Mose die Hebräer beim Auszug aus Ägypten an. Wann und ob dieser historisch stattgefunden hat, ist jedoch ebenfalls unklar. Traditionell gilt Mose zudem als Verfasser der Tora (in christlicher deutscher Übersetzung „Fünf Bücher Mose“ genannt), die die Basis des jüdischen Glaubens bilden. Diese Auffassung wird heute jedoch außerhalb des orthodoxen Judentums (sofern dort überhaupt mit der Historizität des Mose gerechnet wird) kaum mehr vertreten.
Als eigentlicher Begründer des heutigen Judentums gilt Esra (um 440 v. Chr.). Esra war nach der Zeit des babylonischen Exils im Perserreich Hohepriester und durfte mit seinem verschleppten israelischen Volk, das aus vermutlich etwa 20.000 Menschen bestand, auf Erlass des Perserkönigs Artaxerxes I. zurück nach Jerusalem. Dort ordnete er Tempeldienst und Priestertum neu und ließ Ehen von Juden mit heidnischen Frauen scheiden. Die religiöse Identität ist seitdem für das Judentum von ähnlicher Bedeutung wie die der Herkunft.
Jüdische Diaspora
Die jüdische Diaspora begann bereits in der babylonischen Verbannung. Heimgekehrt nach Jerusalem, begrenzten die Kinder Israels ihr Volk erneut auf die leiblichen Nachfahren Abrahams, Isaaks und Jakobs (Israels). Damals erreichte der Prophet Esra, dass Juden, die sich mit nichtjüdischen Frauen verbunden hatten, diese und die mit ihnen gezeugten Kinder verstoßen mussten.
Die Geschichte der Juden verlief unterschiedlich, je nach Land und Epoche. Sie ist sowohl von Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung als auch von Toleranz, friedlichem Miteinander und Gleichberechtigung geprägt. Sie beinhaltet die Geschichte der Juden in der Diaspora und die Gründung des Staates Israel. Als Ursache für die Entstehung der Diaspora werden politische, religiöse oder wirtschaftliche Aspekte angeführt. Die Diaspora entwickelte sich in bedeutenden Zentren jüdischer Gemeinden in Ägypten, in Kyrenaika, Nordafrika, Zypern, Syrien, Kleinasien und schließlich in Griechenland und Rom, bis die Vertreibung beziehungsweise Auswanderung sich weltweit ausbreitete. Weltweit leben etwa 7,909 Millionen Juden in der Diaspora.
Haskala
Im Zeitalter der Aufklärung kam es innerhalb des Judentums zur Diskussion über den Sinn mancher Gesetze der Tora. Das Reformjudentum postulierte seit dem 19. Jahrhundert eine Unterscheidung zwischen universalen religiösen Werten und historisch bedingten religiösen Ritualgesetzen, deren Anpassung an die Gegenwart gefordert wurde. In West- und Mitteleuropa waren die Assimilationsbestrebungen weitaus stärker als in Osteuropa. Der deutschlandweite Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens wurde am 10. November 1938 von den NS-Behörden verboten. In der Sowjetunion und den meisten ihrer Nachfolgestaaten gelten die Juden bis heute als Nationalität. Liberale Gemeinden vertreten heute eine weniger strenge Fassung des Begriffs „Jude“.
Orthodoxes und konservatives Judentum
Der orthodoxen Interpretation der Halacha entsprechend ist nur das leibliche Kind einer jüdischen Mutter als jüdisch zu bestimmen. Ein Kind mit einem jüdischen Vater und einer nichtjüdischen Mutter wird als nichtjüdisch betrachtet. Obwohl die Konversion eines Säuglings unter bestimmten Umständen wie etwa bei Adoptivkindern oder bei Kindern konvertierender Eltern in Betracht gezogen werden kann, werden konvertierte Kinder beim Eintritt in den religiösen Erwachsenenstatus, der bei Mädchen im Alter von 12 Jahren, bei Jungen im Alter von 13 Jahren erreicht wird, typischerweise befragt, ob sie jüdisch bleiben wollen. Dieser Standard gilt im konservativen und im orthodoxen Judentum.
Liberales und Reformjudentum
Jüdische Glaubensgemeinschaften, die die orthodoxen Auslegungen des jüdischen Gesetzes nicht als bindend anerkennen, haben andere Standards. Das amerikanische Reformjudentum und das Liberale Judentum in Großbritannien erkennen ein Kind mit nur einem jüdischen Elternteil – Mutter oder Vater – als jüdisch an, wenn dieses Kind den Standards dieser Gemeinschaft entsprechend als Jude aufgezogen wird. Für ernsthaft gemeinte Konversion sind alle heute weitverbreiteten Formen des Judentums offen. Obwohl es um die Konversion zum Judentum eine Kontroverse gibt, akzeptieren alle religiösen Bewegungen ohne Einschränkung Konvertiten, die sie selbst aufgenommen haben.
Diese Abweichung von der traditionellen Sichtweise hat zu starken Spannungen mit traditionellen konservativen und orthodoxen Juden geführt.
Einige orthodoxe Autoritäten erklären eine jüdische Ehe nur als gültig, wenn sie zwischen zwei Juden geschlossen wird. Ein öffentlicher Gemeindegottesdienst kann nur abgehalten werden, wenn mindestens zehn jüdische Beter (Minjan) teilnehmen.
Jüdischer Säkularismus
Die meisten Anhänger des jüdischen Säkularismus akzeptieren jeden Menschen als Juden, der sich als solcher erklärt, es sei denn, es gibt Grund zur Annahme, dass diese Person damit eine Täuschung begeht. Manche Mitglieder des Reformjudentums teilen diesen Standpunkt.
Antijudaismus und Antisemitismus
Die Antwort auf die Frage, ob jemand als Jude erachtet wird, konnte je nach Gesellschaft darüber entscheiden, ob diese Person einen bestimmten Beruf ausüben, eine Ausbildung erhalten, an einem bestimmten Ort leben, in Haft gehalten, verbannt oder mit behördlicher Billigung ermordet werden konnte. Die Einordnung als Jude folgt dabei keineswegs immer einer scharfen Begrifflichkeit, sondern konnte an diffuse Annahmen oder Vorurteile anknüpfen.
Eine Konsequenz der mittelalterlichen Berufsverbote für Juden und der Verdrängung in das Zinsgeschäft war, dass „Jude“ noch in der 4. Auflage des Concise Oxford Dictionary von 1950 in seiner übertragenen Bedeutung als „maßloser Wucherer“ definiert wurde.
Antisemitische Positionen in der deutschen Politik definierten bereits im 19. Jahrhundert, spätestens jedoch ab 1933, die Zugehörigkeit zum Judentum ethnisch und rassistisch, um auch konvertierte Juden weiterhin als Juden mit angeblich unveränderlichen, ererbten negativen Charaktereigenschaften ausgrenzen und verfolgen zu können. Sie konnten im Deutschen Kaiserreich trotz rechtlicher Gleichstellung weder durch Verzicht auf ihre Religionsausübung noch durch Heirat mit Andersgläubigen oder Konversion zum Christentum volle gesellschaftliche Anerkennung, Bildungs- und Aufstiegschancen erreichen. In der völkischen Bewegung wurde diese Ablehnung verschärft und die Vertreibung oder Ausweisung aller von Juden abstammenden Personen gefordert.
Während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgte der NS-Staat die Bevölkerungsminderheit mit rassistischer Zielsetzung und führte ab 1933 eine fortlaufend verschärfte Gesetzgebung ein: die Nürnberger Gesetze und ähnliche Bestimmungen. Diese wurden ungeachtet des Glaubensbekenntnisses auf alle Personen angewandt, die mindestens einen nach der nationalsozialistischen Definition „jüdischen“ Großelternteil (männlich oder weiblich) hatten. Den betroffenen Menschen wurden damit ihre deutsche Nationalität und die Bürgerrechte aberkannt (siehe Reichsbürgergesetz – Erste Verordnung vom 14. November 1935).
Das NS-Regime benutzte seine nichtjüdische, rassistische Definition, wer als Jude gilt, seit Beginn des Zweiten Weltkriegs auch über die Grenzen hinaus in den von Deutschland besetzten oder beherrschten Gebieten Europas zur legalisierten Verfolgung und Beraubung – zum Teil mittels Arisierung, Ghettoisierung und Inhaftierungen, Deportation – und als Grundlage für die systematischen und über Jahre fortgeführten Massenmorde während der Schoah / des Holocausts. Die Nationalsozialisten bezeichneten diese eliminatorischen Verfolgungsmaßnahmen zynisch und verschleiernd als Endlösung der Judenfrage.
Anfang 2022 versah der Duden den Eintrag zum Wort „Jude“ mit dem Hinweis, die Bezeichnung Jude bzw. Jüdin würde gelegentlich „wegen der Erinnerung an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch als diskriminierend empfunden“ und empfahl stattdessen die Verwendung von Formulierungen wie „jüdische Menschen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger oder Menschen jüdischen Glaubens“. Dies rief heftige Kritik von verschiedenen Seiten hervor, unter anderem vom Zentralrat der Juden in Deutschland. „Jude“ sei „weder ein Schimpfwort noch diskriminierend“.[13] Daraufhin änderte der Duden den entsprechenden Hinweis.[14]
Staat Israel
Die Israelische Unabhängigkeitserklärung definiert Israel als „Staat des jüdischen Volkes“ und gibt zugleich allen Staatsbürgern die gleichen Rechte, unabhängig von ihrer Religion oder Nationalität. Das Rückkehrgesetz von 1950 erlaubt jedem Juden und jeder Jüdin, in Israel einzuwandern und die Staatsangehörigkeit zu erwerben. Die Ausweisdokumente der Israelis enthalten Einträge nach le’om („Nationalität“) und Religionszugehörigkeit. Die regionalen und lokalen, von orthodoxen Rabbinern besetzten Rabbinatsgerichte entscheiden über die Religionszugehörigkeit, damit verbunden auch über das Ehe- und Scheidungsrecht. Sie erkennen nach der Halacha nur Nachkommen jüdischer Mütter als Juden an. Diese Spannung zwischen religiösem und staatlich-säkularem Verständnis von Judesein führte seit den 1950er Jahren immer wieder zu Konflikten.
Nach Grundsatzurteilen des Obersten Gerichts wurden das Rückkehrgesetz und das Registrierungsgesetz mehrmals angepasst. Seit 1970 können Personen mit einem jüdischen Großelternteil, im Ausland zum Judentum konvertierte Personen und deren Familienmitglieder sich als Juden nach der Nationalität eintragen lassen. Seit 2011 können unter Religion als „jüdisch“ eingetragene Personen den Eintrag auf „religionslos“ ändern lassen. Da es in Israel keine Zivilehe gibt und interreligiöse Ehen vor den meisten Rabbinatsgerichten ungültig sind, müssen jüdische Israelis, die Nichtjuden heiraten wollen, dazu ins Ausland reisen.
Demografie
Das American Jewish Year Book veröffentlicht jährlich die von demografischen Instituten mehrerer Staaten gemeinsam ermittelte Gesamtzahlen der Juden weltweit und ihren Anteilen an den Bevölkerungen einzelner Staaten. Zur jüdischen Kernbevölkerung zählen die Institute dabei nur Personen, die sich selbst nach Abstammung und Religion als Juden definieren und sich wechselseitig von anderen kollektiven Identitäten unterscheiden. Nicht mitgezählt sind Personen, die von Juden abstammen, aber einer anderen Religion folgen, und Nichtjuden mit familiären oder sonstigen Verbindungen zu Juden. Anerkannt ist, dass die strenge Definition eher zu niedrige Schätzungen hervorbringt, weil die Anteile von Juden mit mehreren kulturellen und religiösen Identitäten wachsen und dies die eindeutige Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden zunehmend erschwert.[15]
Gesamtzahlen
Das israelische Zentralbüro für Statistik gab die weltweite Zahl der Juden vor dem Holocaust (1925 und 1939) als Vergleichszahlen zur Entwicklung seit 1945 an.[16] Das American Jewish Yearbook und die Berman Jewish Data Bank veröffentlichten die Zahlen seit 1945. Darauf basiert die Statistik der deutschen Plattform Statista zur Anzahl der Juden weltweit bis 2023:[17]
Jahr | Zahl in Mio. |
---|---|
1925 | 14,8 |
1939 | 16,6 |
1945 | 11,0 |
1950 | 11,3 |
1960 | 12,08 |
1970 | 12,58 |
1980 | 12,82 |
1990 | 12,87 |
2000 | 13,25 |
2005 | 13,62 |
2010 | 14,05 |
2015 | 14,55 |
2018 | 14,60 |
2019 | 14,71 |
2020 | 15,08 |
2021 | 15,16 |
2022 | 15,25 |
2023 | 16,78 |
Verteilung nach Staaten
Anfang der 1990er Jahre lebte noch ein Großteil der Juden in der Sowjetunion. Nach deren Auflösung wanderten die meisten davon nach Israel, in die USA und nach Deutschland aus. Dadurch änderte sich die Verteilung der Juden in der Welt. Bis Ende 2023 registrierten die Demografen folgende Zahlen:[18]
Land | Zahl |
---|---|
![]() |
7,5 Mio |
![]() |
7,2 Mio. |
![]() |
440.000 |
![]() |
398.000 |
![]() |
312.000 |
![]() |
171.000 |
![]() |
132.000 |
![]() |
125.000 |
![]() |
117.000 |
![]() |
90.500 |
![]() |
50.000 |
![]() |
46.000 |
![]() |
40.000 |
![]() |
33.000 |
![]() |
29.700 |
Für weitere Staaten lagen 2021 folgende Zahlen vor:[19]
Land | Zahl | Bevölkerungsanteil in % |
---|---|---|
![]() |
28.900 | 2,5 |
![]() |
27.200 | 0,5 |
![]() |
18.400 | 2,1 |
![]() |
16.400 | 4,7 |
![]() |
15.900 | 0,8 |
![]() |
14.900 | 1,4 |
![]() |
14.500 | 0,2 |
![]() |
12.900 | 0,3 |
![]() |
10.300 | 1,2 |
![]() |
10.000 | 2,3 |
Siehe auch
Gruppen im Judentum:
Literatur
- Stefan Vennmann, Frank Lattrich: Jude. In: Bente Gießelmann, Robin Heun, Benjamin Kerst, Lenard Suermann, Fabian Virchow (Hrsg.): Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe. Wochenschau Verlag, Schwalbach 2015, ISBN 978-3-7344-0155-8, S. 162–175.
- Haim Hillel Ben-Sasson (Hrsg.): Geschichte des jüdischen Volkes. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5. Auflage, Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-55918-1.
- Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Nachdruck: Directmedia Publishing, Berlin 2004.
- Salcia Landmann: Wer sind die Juden? Geschichte und Anthropologie eines Volkes. dtv, München 1982, ISBN 3-423-00913-6.
Weblinks
- Jewish Population of the World. In: Jewish Virtual Library
- Jüdisches Internetportal haGalil in deutscher Sprache
- Portal der jüdischen Lokalgeschichte mit der größten Internetdatenbank mit Artikeln, Fotos, Filmen, Audios, Zeitzeugenberichten, Erinnerungen und aktuellen Nachrichten über Juden in Ostmitteleuropa
Einzelnachweise
- ↑ a b Christian Frevel: Geschichte Israels. Kohlhammer, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-17-035421-0, S. 28f.
- ↑ a b c d e f Artikel Jew; Yehoshua M. Grintz: Semantics; Raphael Posner: Halakhic Definition. In: Encyclopaedia Judaica, Band 11. 2. Auflage, Thomson Gale, Detroit 2007, S. 253–255
- ↑ Albrecht Lohrbächer, Helmut Ruppel, Ingrid Schmidt (Hrsg.): Was Christen vom Judentum lernen können. Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 3-17-018133-5, S. 38
- ↑ Wolfgang Stegemann: Jesus und seine Zeit. Kohlhammer, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-17-012339-7, S. 193–198
- ↑ James D. G. Dunn: Jesus, Paul, and the Gospels. William B. Eerdmans Publishing, Grand Rapids (Michigan) 2011, ISBN 978-0-8028-6645-5, S. 124;
John M. G. Barclay, Katherine M. Hockey, David G. Horrell (Hrsg.): Ἰουδαῖος: Ethnicity and Translation. In: Ethnicity, Race, Religion: Identities and Ideologies in Early Jewish and Christian Texts, and in Modern Biblical Interpretation. Bloomsbury Publishing, London 2018, ISBN 978-0-567-67731-0, S. 46–58 - ↑ Wolfgang Stegemann: Jesus und seine Zeit. Stuttgart 2010, S. 189–192
- ↑ Johann Maier: Jude, Judentum. In: Johann Maier: Judentum von A bis Z. Glauben, Geschichte, Kultur. Herder, Freiburg im Breisgau 2001, ISBN 3-451-05169-9, S. 235–236, hier S. 235
- ↑ Ferdinand Dexinger: Judentum. In: Theologische Realenzyklopädie. 4. Auflage, S. 332
- ↑ Mishnah Kiddushin 3,12, 68b; Yadayim, Issurei Biah 15,3–4. Maimonides: Mishneh Torah, Kedushah, Issurei Biah 12–15, bes. 12,7; 15,3–6. Schulchan Aruch, Eben Ha-Eser 4,5; 19.
- ↑ Dana Evan Kaplan, Michael Berenbaum, Fred Skolnik (Hrsg.): Reform Judaism. In: Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage. Band 17. Macmillan Reference, Detroit 2007, S. 172 f.
- ↑ J. Blidstein: Who Is Not A Jew? The Medieval Discussion. In: Israel Law Review 11/3 (1976), S. 369–390;
Edward Fram: Perception and Reception of Repentant Apostates in Medieval Ashkenaz and Premodern Poland. In: AJS Review. 21/2 (1996), ISSN 0364-0094, S. 299–339, JSTOR:1486698 - ↑ Paul Mandel: The Call of Abraham: A Midrash Revisited. In: Prooftexts. 14/3 (1994), ISSN 0272-9601, S. 267–284, JSTOR:20689398
- ↑ »Das Wort ›Jude‹ ist für mich weder ein Schimpfwort noch diskriminierend«. Der Spiegel, 7. Februar 2022
- ↑ Duden ändert nach Kritik Hinweis zum Wort »Jude«. Jüdische Allgemeine, 16. Februar 2022
- ↑ Sergio DellaPergola: World Jewish Population, 2021. In: Arnold Dashefsky, Ira M. Sheskin (Hrsg.): The American Jewish Year Book, Band 121. Springer VS, New York 2021, S. 313–412; Volltext bei Berman Jewish Data Bank, PDF S. 11
- ↑ Holocaust-Gedenken: So viele Juden auf der Welt wie einst 1925. Israelnetz, 7. April 2021
- ↑ Anzahl der Juden weltweit in ausgewählten Jahren von 1945 bis 2023. Statista.com, Januar 2024 (zweite Kommastelle in der Wiedergabe gerundet)
- ↑ Anzahl der Juden in ausgewählten Ländern im Jahr 2023. Statista.com, Januar 2024
- ↑ Sergio DellaPergola: World Jewish Population, 2021. In: Arnold Dashefsky, Ira M. Sheskin (Hrsg.): The American Jewish Year Book Band 121, New York 2021, PDF S. 27