Den Traum vom Fliegen will Robert Lepage nicht lassen. Als er vor fünf Jahren zum ersten Mal auf europäischen Festivals auftauchte, als einziger Akteur in einem selbstverfaßten Stück mit dem Titel »Vinci«, stellte er einen jungen Kanadier dar, der durch Europa unterwegs ist, um das Wesen der Kunst zu ergründen. Er spielte sowohl sich selbst als auch die Figuren, denen er begegnete, darunter die Mona Lisa und Leonardo da Vinci - und am Ende schwang er sich mit Ikarus-Flügeln von Leonardo in die Luft. Vielleicht ist Kunst-Machen das verlockend Unmögliche wie Fliegen, außer im Traum.
Auch in seinem neuen Solostück »Les Aiguilles et l''Opium«, mit dem er dieses Jahr in Europa auftritt, geht er in die Luft. Er spielt, mit ausgebreiteten Armen hoch über der Bühne hängend, ein Flugzeug, spielt zugleich einen fliegenden Dichter, rezitiert also recht feierlich seinen Text und sorgt auch noch dafür, daß die beiden Propeller, die ihn zu tragen scheinen, geheimnisvolle Licht-und-Schatten-Spiele erzeugen. Schwindel und Zauber gehören immer zu seiner Kunst, und sie bewahrt etwas Kindliches, weil er dabei sich selbst in Erstaunen zu versetzen scheint.
Er spielt mit Theatergewohnheiten und wirft sie über den Haufen. Die Bühne zu seiner Inszenierung von Shakespeares »Coriolan«, die im Oktober in Maubeuge und in Paris zu sehen war, zeigt nichts als eine _(* In »Les Aiguilles et l''Opium«. ) glatte Wand, in der sich ein Fenster von etwa fünf Metern Breite und anderthalb Metern Höhe befindet. Dahinter spielt das ganze Stück, es ist also immer nur in raffinierten Ausschnitten zu sehen, und wenn der Held auf einen Tisch steigt, um seine Stiefel zu zeigen, gerät sein Kopf außer Sicht.
Zufall der Gleichzeitigkeit: Während bei den Salzburger Festspielen Peter Stein damit beschäftigt war, für Shakespeares »Julius Caesar« ganze Heerscharen auf eine Dreißig-Meter-Bühne zu treiben, brachte der Minimalist Lepage das ähnlich großflächige Römerdrama »Coriolan« auf Nudelbrett-Format und verlor dabei nichts: Die Verkleinerung wirkt merkwürdigerweise als Vergrößerung. Zehn Schauspieler bestreiten das ganze Stück.
Im National Theatre in London liegen zur Zeit, wenn Shakespeares »Sommernachtstraum« gespielt wird, Plastikpelerinen für die Zuschauer in der ersten Reihe um die Arenabühne bereit, denn sie könnten etwas abkriegen. Der Regisseur Robert Lepage hat einen Passus im Text wörtlich genommen, daß der Schauplatz von Überschwemmungen heimgesucht sei, und hat sich als Bühne einen schlammigen Tümpel herrichten lassen, in dem die Akteure herumplanschen und -purzeln. Die Vereinfachung bringt eine Verkomplizierung hervor, sie bricht den Gewohnheitsblick auf das gefällige Schönwettermärchen, wendet es ins Alptraumhafte - einmal mehr steht Lepage als ein Überraschungs-Artist da, als ein Theatervirtuose, der verblüfft, indem er so tut, als sei alles ganz einfach.
Der Tag, an dem er über kanadische Provinz-Prominenz als Entertainer aufzusteigen begann, läßt sich festmachen. Es war der 6. Juni 1987, der letzte Tag des »Festival des Ameriques« in Montreal, bei dem sich alljährlich freie Gruppen aus Nord- und Südamerika im Wettstreit treffen.
Der Legende zufolge hatte die Jury sich ihre Meinung schon gebildet, als an diesem letzten Tag das kleine Theatre Repere aus Quebec mit einem selbstverfaßten Stück unter dem Titel »La Trilogie des Dragons« antrat. Die Aufführung dauerte gute sechs Stunden, sie erzählte (in Französisch, Englisch, Chinesisch und ein bißchen Japanisch) eine vielsträngige Familiengeschichte, die 75 Jahre umspannte und den ganzen Kontinent von Quebec bis Vancouver - und erst beim jubelnden Schlußapplaus, so heißt es, begriffen viele Zuschauer, daß ihnen nur acht Schauspieler diesen ganzen figurenreichen Familienroman vorgespielt hatten.
Die »Drachentrilogie«, inspiriert und inszeniert von Robert Lepage, gewann den Grand Prix des Festivals. Schon zwei Monate später kam die Truppe zu Gastspielen nach Europa, seither immer wieder (in Hamburg trat sie 1989 beim Festival »Theater der Welt« auf, in Salzburg 1992 im »Szene«-Programm), und allmählich begannen die Kritiker den Namen Lepage als neue Größe im Umkreis von Peter Brook, Peter Stein und Patrice Chereau, von Robert Wilson und Peter Sellars zu nennen.
An einem Märzmorgen dieses Jahres sitzt Lepage in einem Frankfurter Hotel beim Frühstück und entziffert deutsche Zeitungs-Überschriften - angeblich, um Deutsch zu lernen, da er seit langem auch ein deutsches Theaterprojekt verfolgt. In München, im Residenztheater, wo er schon zwei Schauspieler-Workshops durchgeführt hat, soll es 1993 Gestalt annehmen, im Juni, als Eröffnungsspektakel des Festivals »Theater der Welt« unter dem Titel »Map of Dreams«. In Frankfurt ist er, um im Theater am Turm sein Stück »Les Aiguilles et l''Opium« zu zeigen, und er will die Gelegenheit nutzen, um es erstmals auf englisch auszuprobieren, als »Needles and Opium«. Der Sprachsprung ist eine Verlockung, Gastspiele in England und den USA stehen bevor.
Zu Hause in Kanada, sagt er, würde er niemals auf englisch spielen; dazu sei die Situation viel zu heikel. Er war vor vier Jahren Co-Regisseur einer »Romeo und Julia«-Produktion, bei der die Montagues englisch und die Capulets französisch sprachen, er ist seit zwei Jahren Direktor des französischen Theaters im Nationalen Kulturzentrum in Ottawa (was er als eher organisatorischen Teilzeitjob betrachtet) - doch er glaubt nicht, daß das Theater die Kluft zwischen den britisch und den französisch geprägten Kanadiern überbrücken könnte.
In seinem Elternhaus, der Vater war Taxifahrer in Quebec, wuchsen neben ihm und seiner Schwester zwei Englisch sprechende Adoptivgeschwister auf. Aber er ist Separatist, wie nach seiner Ansicht eigentlich alle Frankokanadier. Warum sollte, da doch nun überall die unglaublichsten Kleinstaaten erstehen, nicht auch die Provinz Quebec eine eigene Nation werden? Wenn er sich darüber ereifert, schlägt plötzlich kräftig der schmatzende Akzent der Kanadier durch, den die Franzosen so drollig finden - er sagt nicht Nassion, sondern Natzion.
Robert Lepage, lang und schmal wie ein Tänzer, ist inzwischen 35 und sieht immer noch wie 19 aus. Er hat eigentümlich schräg stehende, bernsteingelbe Augen und eine Haut wie Wachs. Er gehört zu jenen Menschen, die aufgrund einer Kinderkrankheit die Körperbehaarung verloren haben; mag sein, daß die Erfahrung der Kahlheit ihn mit zum Exzentriker, zum Komödianten geprägt hat - er geht mit leicht zerzausten Lockenperücken durchs Leben, deren Farbton manchmal wechselt.
Er versteht sich als Geschichtenerzähler auf dem Theater. Vor Grundsatzfragen verschanzt er sich hinter Geschichten. So erzählt er in diesem Frankfurter Hotel mit dem Allerweltsnamen Mondial von einem Hotel im nordfranzösischen Maubeuge, das Shakespeare heiße, und dann von einem Hotel in Paris, einer mittelprächtigen Künstler-Absteige in Saint-Germain-des-Pres namens La Louisiane.
Dort gebe es, sagt er, ein eigenartig ovales oder eigentlich »rundes« Zimmer. Darin habe Sartre in den vierziger Jahren gewohnt und es dann weitergegeben an die Existentialistenmuse Juliette Greco. So sei dieses Zimmer 1949 zum Schauplatz ihrer Liebesgeschichte mit dem schwarzen Jazztrompeter Miles Davis geworden - und heute, wenn er in Paris sei, wohne er, Robert Lepage, immer in diesem »runden« Zimmer, in Nummer 9.
Lepage beharrt auf der Wahrheit seiner Geschichten. Was er aber erzählt, ist sein Stück »Les Aiguilles et l''Opium«. Es spielt in diesem Zimmer, am 14. Juli 1989, und während draußen Paris das Revolutionsjubiläum feiert, liegt da ein kanadischer Theatermacher namens Robert auf seiner Matratze und durchleidet die Delirien des Liebesentzugs.
Immer wieder versucht er vergebens, am Telefon die geliebte Person in New York zu erreichen, und immer wieder dreht die Zeit dieses Zimmers sich um 40 Jahre zurück, zu Miles Davis und Juliette Greco, und dann zu dem Dichter Jean Cocteau, der damals im Flugzeug von New York heim nach Paris unterwegs war, während Davis schwimmend in die USA zurückkehrte: So kreuzten sich, in Lepages Theater, die Wege der beiden.
Lepage spielt alle Rollen in diesem assoziationsgeladenen Alptraumstück um Liebesschmerz, Drogenverzweiflung und europäisch-amerikanische Künstlerschicksale. Er braucht dazu kaum mehr als eine quadratische weiße Wand, auf der mancherlei Lichtspiele, Schattenrisse, Projektionen von vorwärts und rückwärts der Phantasie auf die Sprünge helfen, und weil diese Wand, waagerecht gekippt, zum Trampolin werden kann, kommt er seinem Traum vom Fliegen einmal mehr sehr nah.
Lepage erzählt Geschichten, weil er nicht von sich selbst reden will, zum Beispiel die Geschichte von der Zahl Zwei. Vor zwölf Jahren in Quebec sei eine junge Schauspielerin aus seinem Freundeskreis ermordet worden, an einem 22. Oktober, um 2 Uhr nachts. Sie war 22 und war Teil eines Zwillingspaars. Erst zwei Jahre und zwei Monate später, an einem 22. Dezember also, wurde der Täter verhaftet: Er verriet sich, weil er die Tat mit einem zweiten Mädchen zu wiederholen, also zu verdoppeln versuchte. Und auch er war, wie sich zeigte, Teil eines Zwillingspaars.
Die Details sind Lepage vertraut, weil er damals selbst in den Kreis der Verdächtigen geriet und sich einem Test mit dem Lügendetektor unterzog - und die Erfahrung, daß in einer Welt von Schein und Sein und Theater und Wirklichkeit und trügerischen Duplizitäten zuletzt eine Maschine darüber entschied, was falsch und was wahr sei, hat ihm keine Ruhe gelassen: Aus dem Kriminalfall ist sein Stück »Le Polygraphe« geworden (was unter anderem »Lügendetektor« bedeutet), das die Geschichte in Rekonstruktionsversuchen abermals spiegelt, verdoppelt, theatralisch schwindelerregend vervielfältigt - es ist, seit drei Jahren auf Tourneen (mehrmals auch in Deutschland), das erfolgreichste im Repertoire des Theatre Repere.
Maubeuge ist ein Städtchen mit knapp 40 000 Einwohnern an der französisch-belgischen Grenze, und das angenehmste Hotel am Ort heißt in der Tat Shakespeare. Maubeuge soll traulich und hübsch gewesen sein, bevor der Blitzkrieg von 1940 es plattmachte, nun leidet es unter dem Einheitsbeton der Wiederaufbauzeit.
Den Krieg überlebten die mächtigen Stadtbefestigungen aus dem 17. Jahrhundert, die nun als Grüngürtel mit Schanzen und Wassergräben das Zentrum umgeben, und es überlebte in diesen Anlagen eine Reithalle der einstigen Garnison. Diese Halle haben die Leute von Maubeuge in den achtziger Jahren zu einem Theater ausgebaut, das nun »Le Manege« heißt, und sie haben einen jungen Theaterbesessenen gefunden, der da für wenig Geld unglaublich viel Betrieb macht.
Er hat sich nicht in den üblichen Provinztournee-Betrieb eingeklinkt, sondern freie Gruppen angelockt und ein internationales Avantgarde-Festival in Gang gebracht; er hat seinen Mitbürgern Tadeusz Kantor, Heiner Müller, Robert Wilson und manches Abenteuerliche mehr vorgeführt, und er hat bewirkt, daß in diesem Herbst das Theatre Repere aus Quebec für zwei Arbeitsmonate in seiner Manege Quartier nahm. Hier endlich konnte Lepage ein Projekt zur Premiere bringen, das ihn seit langem umtreibt: die recht beispiellose und halsbrecherische Unternehmung, mit einem Trüppchen von nur zehn Schauspielern drei große Shakespeare-Stücke aufs Mal herauszubringen.
Es handelt sich um »Macbeth«, »Coriolan« und »Der Sturm« - und Lepages Begründung für die Kombination klingt, zumal in Maubeuge, provinziell eigensinnig: Eben diese drei Werke hat der in Quebec hochgeschätzte Dichter Michel Garneau übersetzt - und zwar nicht ins Französische, sondern ins Frankokanadische.
Bei »Coriolan«, dem großstädtischen Polit-Intrigenstück, ist es die Sprache heutiger Businessmen und Militärs, bei dem humanistischen »Sturm«-Märchen ist es ein klassisch gepflegter Quebec-Ton, und bei dem vorzeitlichen Schauerdrama »Macbeth« ist es ein archaischer Fischer-Dialekt, dessen Schmatzlaute und schrille Vokalfarben für französische Ohren reine Barberei sind.
Lepage hat sich in diese Shakespeare-Trilogie hineingearbeitet, indem er die drei Stücke im vergangenen Jahr, sozusagen als Skizzen, in Kanada mit Schauspielschülern einstudierte. Die Profi-Version nun, im Frühjahr in Montreal begonnen, im Oktober in Maubeuge herausgebracht und dann in Paris im Centre Pompidou zum »Festival d''automne« präsentiert, ist ein Exerzitium in Bescheidenheit: Drei rund zweieinhalbstündige, pausenlose Vorführungen, drei aus gemeinsamen Grundformen und Bauteilen entwickelte Bühnenbilder, drei Versuche, Shakespeare nicht mit dramatischem Volldampf nahezukommen, sondern durch eine Erzählung in Bildern.
Nach dem »Macbeth«, der auf einem zweistöckigen Spielsteg mit viel kinomäßigen Lichtwirkungen vorangetrieben wird, und dem »Coriolan«, der durch seine Guckfenster-Optik verblüfft, wird deutlich, wieviel entspannter, bei sich selbst glücklicher Lepage den »Sturm« angeht. Er zaubert zu gern.
Er beginnt einfach damit, daß die Schauspieler, in einem kahlen Raum um zwei Tische herum sitzend, das Stück lesen. Ganz allmählich, durch winzige Gesten, Veränderungen, Zutaten, wird ein Spiel daraus, das sich seine eigene Welt schafft, sie in Bildern entfaltet, und es endet festlich feierlich in Renaissance-Kostümen. Ariel, der rastlose Luftgeist, sitzt schaukelnd auf der Lampe über dem Spielfeld und erinnert so, gewiß mit Absicht, an den anderen Shakespeare-Geist, den Lepage dieses Jahr beschworen hat, an den Puck im Londoner »Sommernachtstraum«.
Dieser »Sommernachtstraum« ist das Gegenstück zum Minimalismus der Trilogie. Er geht als musikalisches Liebesmärchen wie als komödiantische Schlammschlacht ins volle, und seine Energiequelle dabei ist die akrobatische Darstellerin des Kobolds Puck, die Lepage aus Kanada mitgebracht hat: Sie ist Schlangenmensch von Beruf. Wenn sie auf den Händen geht, dabei Shakespeare spricht und anmutig mit den Füßen gestikuliert, oder wenn sie an einem Tau hoch über der Bühne dahinwirbelt, scheint der Mensch doch fliegen zu können, zumindest in diesem Theatertraum.
Die kanadische Shakespeare-Truppe ist nach der Vorstellungs-Serie in Paris erst einmal auseinandergegangen. Lepage aber denkt schon an den nächsten Schritt, denn für ihn ist diese Trilogie eine Sache, die langsam wachsen muß, damit sie lange hält: Anfang nächsten Jahres ist eine neue Probenstrecke geplant, dann eine neue Europareise mit Gastspielen im Frankfurter Theater am Turm und Zürich, und danach erst, beim nächsten »Festival des Ameriques«, soll diese Unternehmung, die doch so eigensinnig kanadisch gedacht ist, erstmals in Kanada zu sehen sein.
In Paris, im Rahmen des »Festival d''automne«, gastiert das Theatre Repere jetzt für zehn November-Tage mit Lepages »Le Polygraphe«, und auch er selber bezieht wieder einmal sein »rundes« Zimmer im Hotel La Louisiane. Abends wird er die Seine überqueren und im Centre Pompidou das Stück vorführen, das in diesem Zimmer spielt. Das Telefon wird klingeln, er wird lange einer unverständlichen Stimme zuhören und dann sagen: »Nein, Monsieur Sartre wohnt hier nicht mehr.«
* In »Les Aiguilles et l''Opium«.