Interview mit Tim Lobinger "Extrovertiert und ein bisschen ausgeflippt"
SPIEGEL ONLINE: Herr Lobinger, abgesehen von der EM 1998 sind Sie bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen oft unter Ihren Möglichkeiten geblieben, obwohl Sie meist als Mitfavorit galten. Wie wichtig ist eine Medaille bei der EM im eigenen Lande?
Tim Lobinger: Mein Ziel ist es, Gold zu gewinnen. Ich bin bei vielen Meisterschaften der letzten Zeit verletzt oder angeschlagen angetreten. Das letzte Mal, wo ich mich richtig gut verkauft habe, war bei der WM 1997 mit dem vierten Platz, damit hat damals keiner gerechnet. Es wäre schön, wenn jetzt mal alles passen würde. So, wie ich bis jetzt gearbeitet habe, denke ich, dass es passieren könnte.
SPIEGEL ONLINE: Wie hoch müssen Sie in München springen, um Gold zu gewinnen?
Lobinger: Mit 5,90 Metern hat man Gold. Aber das ist ja auch schon die Weltjahresbestleistung, die ich halte.
SPIEGEL ONLINE: Nun sind Sie ja der Einzige von all den erstklassigen Stabhochspringern in Deutschland, der bislang international Medaillen gewinnen konnte. Meinen Sie, dass sich das in München ändern wird?
Lobinger: Es geht darum, dass es auf jeden Fall einer von uns Deutschen schaffen muss. Wir verstehen uns als ein Team. Nachdem wir Stabhochspringer so viel Schelte in der Vergangenheit bekommen haben, muss jetzt einer zeigen, dass wir auch ganz oben stehen können. Das ist das Wichtigste.
SPIEGEL ONLINE: Ist es etwas Besonderes für Sie, bei so einem Wettbewerb im Münchner Olympiastadion zu starten, fast auf den Tag genau 30 Jahre nach den Sommerspielen von 1972?
Lobinger: Bislang durfte ich dreimal dort springen. Da merkt man schon, genauso wie im Berliner Olympiastadion, dass ein Hauch von Zeitgeist und Geschichte durchs Stadion zieht. Das nehme ich schon auf, und wenn ich bedenke, wie oft ich diese Bilder von 1972 schon gesehen oder auch im Studium Referate darüber gehalten habe... Das Stadion ist schon was Tolles, vor allem wenn es voll ist. Und danach sieht es ja aus.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie eine Erklärung, warum es gerade im Stabhochsprung hier zu Lande momentan eine Fülle von Weltklassespringern gibt?
Lobinger: Das liegt daran, dass wir ein bisschen losgelöst von der Leichtathletik sind und nicht so hausbacken wirken. Bei uns kann mehr passieren, die Gefahr ist größer, es gibt mehr Action. Wir springen auch mal am Strand oder in Einkaufspassagen. Dieser Extremsportcharakter beim Stabhochsprung passt wohl ganz gut zum Zeitgeist, so dass sich von unserer Disziplin auch Jugendliche angesprochen fühlen, die mit Leichtathletik sonst nicht viel am Hut haben. Deswegen haben wir mehr Nachwuchs. Zudem war es für die jüngeren Athleten bestimmt gut zu sehen: Ach ja, wenn Tim Lobinger in die Weltklasse springen kann, dann packe ich das doch auch.
SPIEGEL ONLINE: Die Stabhochspringer stechen ja nicht nur wegen ihrer Leistungen heraus, sondern auch wegen ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit außerhalb der Arena. Muss man für so eine extreme Sportart auch ein extremer, ein auffälliger Typ sein?
Lobinger: Stimmt, die Springer, die jetzt dabei sind, sind eigentlich alles eher Typen außerhalb der Norm, die sonst für Leichtathleten gilt. Die können richtig professionell feiern und sind sehr locker. Aber wir sind keine Leute, die nur im Stadion eine Show abziehen, sondern auch im Privatleben geht es eher extrovertiert und ein bisschen ausgeflippt zu. Über uns kann man halt eher mal eine Geschichte schreiben, was letztlich dem Stabhochsprung nützt und auch der gesamten Leichtathletik.
SPIEGEL ONLINE: Warum gibt es denn in den anderen Disziplinen "zu viele graue Mäuse", wie DLV-Präsident Clemens Prokop vor kurzem klagte? Gute Leistungen gibt es doch auch anderswo.
Lobinger: Unsere Disziplin verlangt charakterlich einfach ein bisschen mehr, weil sie so schwierig und gefährlich ist. Das mag überheblich klingen, aber wir gehen deshalb schon anders miteinander um und treten auch nicht so als Individualsportler auf, wie es sonst üblich ist in der Leichtathletik. Es wäre sicher auch eine Aufgabe, Athleten mal beizubringen, wie sie sich präsentieren können und welche Verantwortung sie dafür haben, wie ihr Sport wahrgenommen wird.
SPIEGEL ONLINE: Die Popularität von Leichtathletik ist innerhalb der Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren stark zurückgegangen. Liegt das an den vielen grauen Mäusen?
Lobinger: Nein, der Grund ist, dass Leichtathletik im frei empfangbaren Fernsehen viel zu wenig präsent ist. Wenn man bedenkt, wie wenig Sendezeit es gibt und wie gut die Einschaltquoten dann aber sind, scheint mir das Interesse noch vorhanden zu sein. Aber da ist nicht nur falsch, sondern naiv und dumm vom Verband verhandelt worden, der die Rechte vor vier Jahren an den französischen Canal plus verkauft hat. Das Ergebnis ist, dass die wichtigsten Wettkämpfe der Golden League in Deutschland nur auf Premiere zu sehen waren. Und wer schaut schon Pay-TV? Das war der Super-GAU für die Leichtathletik, der Anfang allen Übels.
SPIEGEL ONLINE: Viele Sportarten sind weniger wegen langweiliger Athleten, sondern durch auffällige Blut- und Urinwerte ins Gerede gekommen. Es gibt ständig neue Fälle. Wird Doping allmählich zu einem alltäglichen Kavaliersdelikt, über das sich Sportler und Publikum immer weniger aufregen?
Lobinger: Könnte man meinen. Wenn man bedenkt, wie damals ein Ben Johnson, der sich natürlich auch superdoof benommen hat, an den Pranger gestellt wurde. Heute gibt es im Radsport Rennfahrer, die werden positiv getestet und fahren sechs Wochen danach wieder. Das regt niemanden mehr auf. In der Leichtathletik gilt es dagegen immer noch als Katastrophe. Es wird mit zweierlei Maß gemessen. Toni Schumacher hat Mitte der achtziger Jahre das Buch "Anpfiff" geschrieben, nach dem Doping im Fußball plötzlich öffentlich diskutiert wurde. Genauso plötzlich war diese Diskussion wieder zu Ende. Da sieht man doch, wo eine Zange angesetzt wurde. Es wird auch viel weniger kontrolliert als bei uns. Im Tennis genauso. Es gibt Sportarten, die sind für die Öffentlichkeit so wichtig, dass bei ihnen einfach nichts passieren darf.
Die Fragen stellte Jörg Schallenberg