[302] Wir wollen geh�rt werden, denn wir reden als Warner, und immer ist die Stimme des Warners, wer es auch sei und wo sie auch immer erklinge, in ihrem Rechte; daf�r habt ihr, die angeredet werden, das Recht, euch zu entscheiden, ob ihr eure Warner als ehrliche und einsichtige M�nner nehmen wollt, die nur laut werden, weil ihr in Gefahr seid, und die erschrecken, euch so stumm, gleichg�ltig und ahnungslos zu finden. Dies aber d�rfen wir von uns selbst bezeugen, da� wir aus reinem Herzen reden und nur soweit dabei das Unsere wollen und suchen, als es auch das Eure ist – n�mlich die Wohlfahrt und die Ehre des deutschen Geistes und des deutschen Namens.
Es ist euch gemeldet worden, welches Fest im Mai des vorigen Jahres zu Bayreuth gefeiert wurde: einen gewaltigen Grundstein galt es dort zu legen, unter dem wir viele Bef�rchtungen auf immer begraben, durch den wir unsere edelsten Hoffnungen endg�ltig besiegelt glaubten – oder vielmehr, wie wir heute sagen m�ssen, besiegelt w�hnten. Denn ach! Es war viel Wahn dabei: jetzt noch leben jene Bef�rchtungen; und wenn wir auch keineswegs verlernt haben zu hoffen, so gibt doch unser heutiger Hilf- und Mahnruf zu verstehen, da� wir mehr f�rchten als hoffen. Unsre Furcht aber richtet sich gegen euch: ihr m�chtet gar nicht wissen, was geschieht, und vielleicht gar aus Unwissenheit verhindern, da� etwas geschieht. Zwar ziemt es sich l�ngst nicht mehr, so unwissend zu sein; ja fast scheint es unm�glich, da� jemand es jetzt noch ist, nachdem der gro�e, tapfere, unbeugsame und unaufhaltsame K�mpfer Richard Wagner schon jahrzehntelang unter dem gespannten Aufmerken fast aller Nationen f�r jene Gedanken einsteht, denen er in seinem Bayreuther Kunstwerk die letzte und h�chste Form und eine wahrhaft siegreiche Vollendung gegeben hat. Wenn ihr ihn jetzt noch hindern w�rdet, den Schatz auch nur zu heben, den er willens ist euch zu schenken: was meint ihr wohl damit[303] f�r euch erreicht zu haben? Eben dies mu� euch noch einmal und immer wieder �ffentlich und eindringlich vorgehalten werden, damit ihr wisset, was an der Zeit sei, und damit auch nicht einmal das mehr in eurem Belieben steht, die Unwissenden zu spielen. Denn von jetzt ab wird das Ausland Zeuge und Richter im Schauspiele sein, das ihr gebt; und in seinem Spiegel werdet ihr ungef�hr euer eigenes Bild wiederfinden k�nnen, so wie es die gerechte Nachwelt einmal von euch malen wird.
Gesetzt, es gel�nge euch, durch Unwissenheit, Mi�trauen, Sekretieren, Besp�tteln, Verleumden den Bau auf dem H�gel von Bayreuth zur zwecklosen Ruine zu machen; gesetzt, ihr lie�et es in unduldsamem Mi�wollen nicht einmal zu, da� das vollendete Werk Wirklichkeit werde, Wirkung tue und f�r sich selber zeuge, so habt ihr euch vor dem Urteile jener Nachwelt ebenso zu f�rchten als vor den Augen der au�erdeutschen Mitwelt zu sch�men. Wenn ein Mann in Frankreich oder in England oder in Italien, nachdem er allen �ffentlichen M�chten und Meinungen zum Trotz den Theatern f�nf Werke eines eigent�mlich gro�en und m�chtigen Stiles geschenkt h�tte, die von Norden bis zum S�den unabl�ssig verlangt und bejubelt werden – wenn ein solcher Mann ausriefe: �Die bestehenden Theater entsprechen nicht dem Geiste der Nation, sie sind als �ffentliche Kunst eine Schande! Helft mir, dem nationalen Geiste eine St�tte zu bereiten!�, w�rde ihm nicht alles zu Hilfe kommen, und sei es auch nur – aus Ehrgef�hl? Und wahrlich! Hier t�te nicht nur Ehrgef�hl, nicht nur die blinde Furcht vor der schlechten Nachrede not; hier k�nntet ihr mitf�hlen, mitlernen, mitwissen, hier k�nntet ihr euch aus tiefstem Herzen mitfreuen, indem ihr euch entschl�sset, mitzuhelfen. Alle eure Wissenschaften werden von euch freigebig mit kostspieligen Versuchs-Werkst�tten ausger�stet: und ihr wollt unt�tig beiseite stehen, wenn dem wagenden und versuchenden Geist der deutschen Kunst eine solche Werkstatt aufgebaut werden soll? K�nnt ihr irgendeinen Moment aus der Geschichte unserer Kunst nennen, in dem wichtigere Probleme zur L�sung hingestellt und reicherer Anla� zu fruchtbaren Erfahrungen geboten wurde als jetzt, wo der von Richard Wagner mit dem Namen �Kunstwerk der Zukunft� bezeichnete Gedanke leibhafte und sichtbare Gegenwart werden soll? Was f�r eine Bewegung der Gedanken,[304] Handlungen, Hoffnungen und Begabungen damit eingeleitet wird, da� vor den Augen mitwissender Vertreter des deutschen Volkes der vierget�rmte Nibelungen-Riesenbau nach dem allein von seinem Sch�pfer zu erlernenden Rhythmus sich aus dem Boden hebt, welche Bewegung in die fernste, fruchtbringendste, hoffnungsreichste Weite hinaus – wer m�chte k�hn genug sein, hier auch nur ahnen zu wollen! Und jedenfalls w�rde es nicht an dem Urheber der Bewegung liegen, wenn die Welle bald wieder zur�cksinken und die Fl�che wieder glatt werden sollte, als ob nichts geschehen sei. Denn wenn es unsere erste Sorge sein mu�, da� das Werk �berhaupt getan werde, so dr�ckt uns doch als zweite Sorge nicht minder schwer der Zweifel, wir m�chten nicht reif, vorbereitet und empf�nglich genug befunden werden, um die jedenfalls ungeheure allern�chste Wirkung in die Tiefe und in die Weite zu leiten.
Wir glauben, bemerkt zu haben, da� �berall, wo man an Richard Wagner Ansto� genommen hat und zu nehmen pflegt, ein gro�es und fruchtbares Problem unserer Kultur verborgen liegt; aber wenn man daraus immer nur einen Ansto� zum d�nkelhaften Bekritteln und Besp�tteln genommen hat und nur so selten einen Ansto� zum Nachdenken, so gibt dies uns bisweilen den besch�menden Argwohn ein, ob vielleicht das ber�hmte �Volk der Denker� bereits zu Ende gedacht und etwa den D�nkel gegen den Gedanken eingetauscht habe. Welchen mi�verst�ndlichen Einreden hat man zu begegnen, nur um zu verh�ten, da� das Bayreuther Ereignis vom Mai 1872 nicht mit der Gr�ndung eines neuen Theaters verwechselt wird, um andererseits zu erkl�ren, warum dem Sinne jener Unternehmung kein bestehendes Theater entsprechen kann: welche M�he kostet es, die absichtlich oder unabsichtlich Blinden dar�ber hellsehend zu machen, da� bei dem Worte �Bayreuth� nicht nur eine Anzahl Menschen, etwa eine Partei mit spezifischen Musikgel�sten, sondern die Nation in Betracht komme, ja da� selbst �ber die Grenzen der deutschen Nation hinaus alle diejenigen zu ernster und t�tiger Beteiligung angerufen sind, denen die Veredlung und Reinigung der dramatischen Kunst am Herzen liegt und die Schillers wunderbare Ahnung verstanden haben, da� vielleicht einmal aus der Oper sich das Trauerspiel in einer edleren Gestalt entwickeln werde. Wer nur immer noch nicht verlernt hat,[305] nachzudenken – und sei es wiederum auch nur aus Ehrgef�hl –, der mu� eine k�nstlerische Unternehmung als sittlich denkw�rdiges Ph�nomen empfinden und beg�nstigen, die in diesem Grade von dem opferbereiten und uneigenn�tzigen Willen aller Beteiligten getragen wird und dem ernst ausgesprochenen Bekenntnis derselben geweiht ist, da� sie von der Kunst hoch und w�rdig denken und zumal von der deutschen Musik und ihrer verkl�renden Einwirkung auf das volkst�mliche Drama die wichtigste F�rderung eines originalen deutsch ausgepr�gten Lebens erhoffen. Glauben wir doch sogar noch ein H�heres und Allgemeineres: ehrw�rdig und heilbringend wird der Deutsche erst dann den anderen Nationen erscheinen, wenn er gezeigt hat, da� er furchtbar ist und es doch durch Anspannung seiner h�chsten und edelsten Kunst- und Kulturkr�fte vergessen machen will, da� er furchtbar war.
An diese unsere deutsche Aufgabe in diesem Augenblick zu mahnen hielten wir f�r unsere Pflicht, gerade jetzt, wo wir auffordern m�ssen, mit allen Kr�ften eine gro�e Kunsttat des deutschen Genius zu unterst�tzen. Wo nur immer Herde ernsten Nachsinnens sich in unserer aufgeregten Zeit erhalten haben, erwarten wir einen freudigen und sympathischen Zuruf zu h�ren, insbesondere werden die deutschen Universit�ten, Akademien und Kunstschulen nicht umsonst aufgerufen sein, sich der geforderten Unterst�tzung gem��, einzeln oder zusammen, zu erkl�ren: wie ebenfalls die politischen Vertreter deutscher Wohlfahrt in Reichs- und Landtagen einen wichtigen Anla� haben, zu bedenken, da� das Volk jetzt mehr wie je der Reinigung und der Weihung durch die erhabenen Zauber und Schrecken echter deutscher Kunst bed�rfe, wenn nicht die gewaltig erregten Triebe politischer und nationaler Leidenschaft und die der Physiognomie unseres Lebens aufgeschriebenen Z�ge der Jagd nach Gl�ck und Genu� unsere Nachkommen zu dem Gest�ndnisse n�tigen sollen, da� wir Deutsche uns selbst zu verlieren anfingen, als wir uns endlich wiedergefunden hatten.
Hier, geliebter Meister, ist mein Entwurf. Eigentlich war es mein Wunsch, Ihnen denselben recht pathetisch vorlesen zu k�nnen; aber[306] es scheint nur heute besser, da� er m�glichst bald in Ihre H�nde kommt. Entspricht er ungef�hr seinem Zweck (die B�sen zu erz�rnen und die Guten durch diesen Zorn zu sammeln und anzufeuern), so l�ge mir viel an der schnellen Anfertigung einer franz�sischen, italienischen und auch wohl englischen �bersetzung, aus ersichtlichen Gr�nden. Zur Unterschrift geeignet scheint mir weniger ein Patronats-Ausschu� als vielmehr eine von uns auszuw�hlende kleinere Schar von M�nnern aus den verschiedensten Klassen und St�nden (Adel, Beamte, Politiker, Priester, Gelehrte, Gesch�ftsleute, K�nstler). An jeden der Ausgew�hlten w�re ein Exemplar dieses Aufrufs zu versenden mit der Anfrage, ob er seine Unterschrift hergeben wolle. Ich bringe genug Exemplare mit, um dies zu erm�glichen. Sobald die Antworten zur�ckgekommen sind, ist dann der definitive Druck so schnell wie m�glich vorzunehmen. Ein kurzer gesch�ftlich-praktischer Nachsatz m��te dem Aufruf unterhalb des Striches und der Namen beigef�gt werden, wie dies alles am Freitag zu besprechen ist. Ich komme Donnerstag nachmittag.
In Treue und Liebe Ihr F. N.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spie�ertum, nach geschmacklosen rosa Teet�sschen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach �Omma� riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des R�ckzuges ins private Gl�ck und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von gro�en neuen Ideen, das aufstrebende B�rgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur f�r sich, die unabh�ngig von feudaler Gro�mannssucht bestehen sollte. F�r den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererz�hlungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
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