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Entertainer Lilli Palmer auf Droge

Mitsing-Veranstaltungen für jedermann, »Karaoke« genannt, machen auch in deutschen Discos Furore: Ein 27jähriger ist der Star der Szene.
aus DER SPIEGEL 35/1990
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Als der Disco-Held die Bühne stürmt, leuchtet grell das »Applaus«-Schild auf. Doch das ist vollkommen überflüssig - das Publikum jubelt schon freiwillig. Der Mann agiert wie eine jener Spielzeug-Figuren, die man mit dem Schlüssel bis zum Anschlag aufzieht, auf den Boden setzt und plötzlich losläßt: Der Oberkörper zuckt, die Arme rotieren, es zappelt der ganze Kerl. Eine Entertainer-Karikatur, eine Witzfigur im glitzernden Goldanzug.

Augenblicke später ist die grelle Nummer vorbei, jetzt markiert Tommy den jovialen Showmaster: »Ah, da kommt Jens, unser nächster Kandidat. Ist es richtig, Jens, daß du unserem Publikum mit diesem Lied etwas sagen willst?« Jens will aber nichts sagen, er will singen. Schon seit einer Viertelstunde hat der adrette Jüngling im weißen Seidenhemd angespannt und mit zugehaltenen Ohren seinen Text geübt, nun ist er nicht mehr zu bremsen. Die Musik vom Band dröhnt durch den überfüllten Saal, ein letzter Blick aufs Textblatt, dann legt Jens los, mit Inbrunst und eine Terz zu tief: »I Wanna Know What Love Is«.

Das Publikum tobt, der Amateursänger läuft zu großer Form auf, schmachtet enthemmt, ein kleiner Elvis. Die Mädchen vorn an der Bühne kreischen: »Ausziehen, ausziehen!« Moderator Tommy müht sich derweil darum, daß »die Erotik dieses Stücks auch geballt rüberkommt«. Erst räkelt er sich lasziv am Boden und robbt mit heftigen Beckenbewegungen über die Bühne, dann windet er seinen dünnen Körper um den Mikroständer.

Tommy Garden ist nicht bloß ein Komiker-Talent, der Bühnen-Zappelphilipp hält sich zudem für einen »echten Unterhaltungspionier": Als »allererster hierzulande« habe er jenes Mitsing-Party-Konzept nach Deutschland importiert, das in den USA unter dem Titel »Sing along« firmiert und im Ursprungsland Japan »Karaoke« hieß. Die Idee ist ebenso einfach wie erfolgreich: Diskothekenbesucher wählen aus einem größeren Vorrat von bekannten Pop-Titeln ihren Lieblingssong, dann werden ihnen Text und Mikrofon in die Hand gedrückt. Zur Originalmusik, die per Schaltpult von allen Gesangsspuren gesäubert ist, singen die Feierabend-Entertainer munter drauflos.

Auch in der Bundesrepublik ist der Mitsing-Spaß mittlerweile etabliert, »bald in jeder Provinzdisco«, mault Garden, werde heute sein (natürlich ungeschütztes) importiertes Konzept kopiert. Die Mitsing-Abende bedienen den Darstellungsdrang narzißtischer Szene-Schnösel ebenso wie die Star-Träume pubertärer Dancefloor-Lolitas. »Es gibt keinen«, behauptet Vorsänger Garden, »der sich nicht gern von tausend Leuten bejubeln läßt.«

Tommy Garden heißt eigentlich Thomas Hermanns, ist 27 Jahre alt und privat ein recht nachdenklicher Mensch, das merkt man gleich, als er über den psychologischen Überbau seiner nächtlichen Singstunden sinniert: »Wir erlauben den Leuten, in ihrer Trivialität zu baden.« Deshalb auch die stilechte Selbstinszenierung: Hermanns erscheint in einer Art Bademantel mit roten Rosen, eine kitschige Jesus-Uhr am Handgelenk. Seine Show-Erweckung erlebte das grelle Nachtgewächs im New Yorker Klub »M. K.": »Ich hab'' sämtliche Madonna-Songs auf deutsch gesungen. Bei ,Wie eine Jungfrau'' sind alle voll ausgeflippt.«

Vom Szene-Kasperl zum erfolgreichen Unternehmer war es dann nur ein kleiner Schritt. Hermanns brachte die Idee mit nach München, nannte sich fortan »Tommy Garden« und rief »Sing along« in die In-Lokale. Bei der bayerischen Nachtklub-Schickeria kam er damit verblüffend gut an. Rotbebrillte Werbefritzen und naturbelassene Öko-Yuppies erklommen mutig die Discobühne. Auch in Hamburg, wohin »Tommy Garden« neuerdings seinen Wirkungskreis verlegt hat, ist die Begeisterung gewaltig. Vor dem Heavy-Metal-Treffpunkt »Grünspan«, mitten auf dem Kiez der Großen Freiheit, wärmen sich die 900 Fans schon eine Stunde vor Beginn in Tumulten an der Kasse auf; manche basteln im Gedränge an ihrem Äußeren ("Schmeiß mal das Silberspray rüber"), andere proben schon jetzt ihren Text ("Come on Baby Light My Fire").

Fachleute wissen: Wer die große Nummer sein will auf der Bühne, darf keinesfalls zu perfekt wirken. Wie heißt die Parole des Abends? »If it''s good, it''s good. If it''s bad, it''s better!« Hermanns: »Wir wollen keine Stars imitieren. Wir sind selber welche.«

Die beiden Krankengymnastinnen mit der »Satisfaction«-Nummer zum _(* Im Heavy-Metal-Treff »Grünspan«. ) Beispiel. Das Duo ist des britischen Idioms nur bedingt mächtig und plärrt allein den Refrain mit, die Körpersprache der beiden aber gleicht die Textschwächen spielend aus. Oder der schnauzbärtige Mittdreißiger, der »I Did It My Way« ins Mikro röhrt. Im Publikum sprühen die Wunderkerzen, der Moderator legt schluchzend das Haupt in den Schoß seiner Assistentin.

Wenn Thomas Hermanns wichtigtuerisch über die Bühne gockelt oder mit Partnerin Cora während des gefühlvollen Liedes einen spektakulären Filmkuß hinlegt, dann parodiert er damit die Rituale des deutschen Showbusiness. Vom einsamen Lichtspot auf den Künstler bis zum Billigfummel der Assistentin zielt alles auf »die Klimbim- und Raumpatrouille-Orion-Ästhetik«, die Hermanns heftig infiziert hat. Angst, sich als falsch singende Null lächerlich zu machen, hat offenbar keiner der Teilnehmer: Denn Hermanns spielt ihnen den Show-Idioten vor, er gibt den Blödel-Moderator - und er tut dies voller Ironie, ein Augenzwinkerer ohne Scheu vor humoristischen Tiefschlägen.

Längst ist die Neon- und Kühlschrank-Ära in den deutschen Nachtlokalen vorbei; heute knutschen die Teenies bei »Engtanzparties« im Schummerlicht unter Stuck und goldenen Putten. Da mag die Zeit reif sein für einen Selbstdarsteller wie Hermanns.

Wer ihn dabei beobachtet, wie er beim »White Christmas«-Vorsingen mit verklärtem Blick eine Papier-Serviette zu Schnee-Schnipseln verarbeitet, der ahnt, daß seine Gratwanderung zwischen Satire und Schwachsinn noch reichlich unsicher ist. Doch trotz aller Anfechtungen - sein künstlerisches Idealbild hat der Disco-Held fest im Blick: Im Scheinwerferlicht fühlt er sich »wie Lilli Palmer auf Drogen«. o

* Im Heavy-Metal-Treff »Grünspan«.

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