Wer hätte das gedacht! Die mächtigste Frau der Welt schickt sich nun also an, das Kanzleramt als eine ostdeutsche Bürgerin zu verlassen. Als eine von 16 Millionen. Fast so, als wäre sie nach all den Jahren an der Spitze der Regierung nicht in den Geschichtsbüchern angekommen, sondern an einem völlig anderen Punkt: nämlich bei sich selbst.
Eine "ostdeutsche Bürgerin" und "eine von 16 Millionen", so jedenfalls hat sich Angela Merkel am vergangenen Sonntag in ihrer Rede anlässlich des Festakts zum Tag der Deutschen Einheit in Halle (Saale) bezeichnet. Aus dieser Perspektive sprach sie, nachdem sie vor allem im ersten Jahrzehnt ihrer Kanzlerschaft als Ostdeutsche eher unsichtbar blieb oder ihre Biografie lediglich auf jene Aspekte reduzierte, die man in Westdeutschland gern hörte (Diktatur, Mauerfall, Freiheit). Erst nach dem Krisenjahr 2015 und stärker noch nach 2017, als erschreckend große Teile der ostdeutschen Gesellschaft mit der AfD eine teilweise rechtsextreme Partei in den Bundestag gewählt hatten, begann sie Stück für Stück stärker und vor allem differenzierter über ihre DDR-Herkunft und auch die Verwerfungen der Nachwendezeit zu sprechen.
Merkel hat das öffentlich nie zugegeben, aber es wird ihr Umgang mit dem häufig geäußerten Vorwurf gewesen sein, zu lange nicht auf den Osten geschaut, politisch zu wenig für den Osten getan zu haben. Mit der Zeit ist sie zu einem übergroßen Feindbild für nicht wenige ihrer Landsleute geworden. Zollt sie mit dieser Rede nun ihren Tribut? Oder ging es ihr wie vielen anderen Ostdeutschen, die durch den sichtbar gewordenen Rechtsruck noch einmal wie in eine kritische Selbstbefragung hineingezwungen worden sind, wer sie eigentlich selbst vor 1989 waren und was aus ihnen seither geworden ist? Die Jahre nach 2015 haben schließlich viele Ostdeutsche zu einer Art persönlichen Bilanz gezwungen.
Nun also diese Rede! Sie schlug, salopp gesagt, ein wie eine Bombe. Merkel übte für ihre Verhältnisse scharfe Kritik daran, wie abschätzend DDR-Biografien aus westdeutscher Perspektive häufig gewertet werden. Und sie schlug vor, wie man sie selbst nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft doch sehen möchte: eben als eine Bürgerin dieses Landes.
Mit einer solchen Rede war eigentlich nicht (mehr) zu rechnen gewesen. Sie hat viele überrascht, zumal Merkel, wahrscheinlich zu ihrem eigenen Leidwesen, nie eine große Rednerin gewesen ist. Aber gerade der Zeitpunkt kann als Hinweis darauf verstanden werden, wie wichtig ihr das Gesagte war.
Es wird die wohl letzte große Ansprache in ihrer Funktion als Bundeskanzlerin gewesen sein. Und Merkel hielt sie an dem historisch vergleichsweise unwichtigen 31. Jahrestag der Wiedervereinigung – dieses Jubiläum fand wie im Windschatten der großen Feiern des vergangenen Jahres statt. Man hatte annehmen können, es würde eher in gewohnter Routine stattfinden. Aber nun passierte das Gegenteil: Angela Merkel nutzte das schmale Zeitfenster zwischen der Bundestagswahl und dem nun bald eintretenden Ende ihrer Amtszeit, als wäre es ihr ein Bedürfnis, diese Rede eben nicht als Bundeskanzlerin a. D. oder gar Pensionärin zu halten, sondern als Gerade-noch-Kanzlerin. Als wäre es ein kleines Vermächtnis. Ausgerechnet sie, deren Maxime es in all den Jahren war, die Kanzlerin aller Deutschen zu sein. Sie hat das oft wie als Entschuldigung vorgebracht, wenn man sie nach ihrer DDR-Herkunft befragte und sie, wie gehabt, eher zurückhaltend antwortete.
Nach dieser Rede nun wird man sie als ostdeutsche Kanzlerin aller Deutschen bezeichnen können. Eine Beschreibung, die lange Zeit als undenkbar erschien, als spaltend gar. In einer Gegenwart jedoch, in der es um die Vielheit deutscher Identitäten geht, tritt mit dieser Beschreibung eher eine angemessene Komplexität zutage. Wird aus einer identitätspolitischen Volte nun so etwas wie eine Mainstream-Erzählung. Angela Merkel hat genau jenen Moment gewählt, in dem aus einer bisher eher randständigen Erzählung eine mehrheitsfähige geworden ist.