Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 07/2023.

Niculescu Păun trägt jetzt den Namen seines toten Sohnes im Ausweis, er steht im Adressfeld. Die Vili-Viorel-Păun-Straße führt vorbei an seinem Elternhaus bis zum Friedhof, auf dem er begraben liegt. Man kann den Weg zu Fuß gehen, er ist nicht sehr lang.

Straße, Elternhaus und Friedhof liegen in Singureni, einem Dorf in Rumänien. Eine halbe Stunde südlich von Bukarest, wenn der Verkehr das nicht in die Länge zieht. 1.800 Einwohner, man kennt sich. Vili Viorel Păun wurde hier geboren, am 10. September 1997. Als Vili 18 ist, gehen seine Eltern Niculescu und Iulia mit ihm nach Deutschland. "Wir dachten, in Rumänien hat Vili keine Zukunft", sagt sein Vater heute. Er sagt auch: "Ich werde diese Entscheidung mein ganzes Leben lang bereuen." 

Vili Viorel Păuns Zukunft in Deutschland dauert etwa vier Jahre. Sie endet am 19. Februar 2020 in Hanau, auf einem Parkplatz vorm Lidl, mit drei Schüssen in Brust, Schulter und Kopf, hingerichtet von einem rechtsextremen Attentäter. Der tötet in dieser Nacht neun Menschen aus rassistischen Motiven, braucht dafür knapp zwölf Minuten. Anschließend erschießt er seine Mutter und schließlich sich selbst. 

Drei Jahre ist das jetzt her.

Die Eltern von Vili Viorel Păun haben überall im Haus Bilder ihres Sohnes aufgestellt. Er war ihr einziges Kind. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Iulia, 45, und Niculescu Păun, 48, sitzen in ihrem Wintergarten in Singureni, servieren hervorragenden Kaffee aus schwarzen Tassen mit Goldrand und rauchen Pall Mall in Kette. Iulia schweigt eher und hört zu, Niculescu möchte reden. Über seinen Sohn und über das Versagen der deutschen Behörden. 

Die Păuns sitzen in Rumänien, in Deutschland sind sie kaum noch. Denn beim Anschlag von Hanau wurde ihnen nicht nur der Sohn genommen, sondern auch das Vertrauen in die Bundesrepublik und ihre Institutionen. Es wäre ja so schon schwierig genug, jeden Tag an den Verlust erinnert zu werden – der Arbeitsweg, den Vili früher immer nahm, das Zimmer, in dem er zuletzt schlief, die Plätze, die er gern mochte. Doch in Deutschland werden die Păuns seitdem auch daran erinnert, dass sie sich nicht auf die Bundesrepublik verlassen können, wenn es darauf ankommt. Weil die Behörden nicht verhindert haben, dass der Attentäter sich bewaffnete, obwohl es Warnzeichen gab. Weil die Polizei in der Nacht nicht da war, obwohl Vili den Notruf wählte. Und weil so vieles schieflief in den Tagen, Wochen und Monaten nach dem Anschlag, als es darum ging, ihn aufzuklären. Die Păuns und ihre neue Heimat haben sich seit dieser Nacht entfremdet.

Niculescu Păun verlor seinen Sohn, weil der von einem Rechtsextremisten getötet wurde. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Ein Übersetzer ist beim Gespräch dabei, für die Passagen, die Niculescu besonders schwerfallen. Etwa wenn er von dem Moment erzählt, in dem seine Frau und er zusammenbrachen, als sie vom Tod ihres Sohnes erfuhren. Eigentlich bräuchte er keinen Dolmetscher, sein Deutsch ist gut und sein Englisch auch. Er wechselt mehrfach zwischen den Sprachen. "Vili war ein Wunschkind", sagt Niculescu Păun als Erstes. Sei unter Leuten immer gesprächig gewesen, aber auch zufrieden damit, zu Hause zu sein. Hat gern Playstation gespielt, Fifa und so, echter Sport war eher nicht sein Ding. In der Vitrine im Wintergarten steht ein gerahmtes Bild, aufgenommen an Vilis 19. Geburtstag – seinem ersten in Deutschland. Da sitzt er zwischen seinen Onkeln, er trägt ein Trikot der deutschen Nationalmannschaft. Er war immer pünktlich, aber nie in Eile. Und er mochte Rockmusik und Popklassiker – Jimi Hendrix, Stevie Wonder. 

Das Grab von Vili Viorel Păun in Singureni, seinem Heimatdorf südlich von Bukarest. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Sein Vater beschreibt Vili Viorel als bescheiden. Da ist zum Beispiel der Mercedes, den Niculescu ihm geschenkt hatte, gekauft von seinem Gehalt als Staplerfahrer in einer Logistikfirma in Dietzenbach. "Ich wollte ihm eine Freude damit machen, aber Vili war das peinlich." Zu teuer sei das Auto gewesen, wenn Vili sich mit Freunden getroffen habe, parkte er lieber eine Ecke weiter. 

Am Abend des 19. Februars steigt Vili in diesen silbernen Mercedes CLS 320, am Heumarkt in der Hanauer Innenstadt. Es ist der erste Tatort, an dem der Attentäter Menschen in einer Bar erschießt. Vili sieht den Täter, wie er mit einer Waffe in der Hand aus dem Lokal kommt. Der Täter zielt sogar mit der Pistole auf ihn, schießt vermutlich sogar. Sicher aufgeklärt ist das bis heute nicht. Dann steigt er in sein Auto und fährt weg, Vili nimmt die Verfolgung auf. Er wählt den Notruf, vertippt sich zunächst. Einmal wählt er die 11, einmal die 10. Um 21.57 Uhr, 21.58 Uhr und 21.59 Uhr wählt er die 110, aber kommt nicht durch. Gegen 22 Uhr erreicht der Attentäter den Kurt-Schumacher-Platz im Hanauer Stadtteil Kesselstadt. Der Täter steigt aus seinem Auto, sieht Vili, wie er vorm Lidl parkt, und feuert. Vili stirbt hinter seinem Lenkrad.

Ein Bild aus Kindertagen: Vili als kleiner Junge mit seinem Vater Niculescu © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Vili Viorel Păun starb als Held, davon sind seine Eltern überzeugt, das sagen auch Angehörige der anderen Opfer. Auch Marian Pătuleanu, der Bürgermeister von Singureni, sagt das, er hat sich spontan ein paar Minuten Zeit genommen, um über Păun zu sprechen. Der 52-Jährige hat den Plan unterstützt, die Straße nach Vili umzubenennen. Gerade wird im Dorf ein neuer Fußballplatz gebaut, der Kunstrasen ist schon verlegt. Das Stadion soll "Vilis Arena" getauft werden. 

Auch in Deutschland wurde Vili nach dem Tod für seinen Mut ausgezeichnet. Das Land Hessen verlieh ihm posthum die Medaille für Zivilcourage. An den beiden Tatorten in Hanau nennen Gedenktafeln die Namen der Opfer. Dort, wo Păun erschossen wurde, erinnern ein Stein und ein Kreuz an ihn. Auf die Idee kamen allerdings nicht zuerst die Stadt oder das Land, sondern die Angehörigen der Opfer selbst. Es ist maßgeblich ihr Verdienst, dass die Namen der Opfer weiterhin in der Öffentlichkeit präsent sind. Sie lauten Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. 

In Singureni wird Vili für seinen Heldenmut bewundert. Das im Bau befindliche neue Fußballstadion soll seinen Namen tragen. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Bis heute ist nicht wirklich aufgearbeitet, wie es dazu kommen konnte, dass die Notrufzentrale technisch und personell so schlecht aufgestellt war, dass sie Vilis Anrufe nicht entgegennehmen konnte. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt, suggerierte in der Begründung dafür sogar, Vili sei womöglich irgendwie selbst schuld an seinem Tod, weil er sich der Gefahr habe bewusst sein müssen. Erst fast ein Jahr später, am 11. Februar 2021, räumte der hessische Innenminister Peter Beuth vor dem Innenausschuss im Landtag technische Fehler ein. Bis heute ist auch nicht klar, wieso der Totenschein zunächst den Namen und das Geburtsdatum von Niculescu führte, der damit bürokratisch betrachtet vier Tage lang tot war. Unklar ist bis heute, wieso die Păuns statt Vilis persönlicher Sachen später die eines anderen Opfers zugeschickt bekamen, die von Said Nesar Hashemi.

Es hat sich auch niemand dafür entschuldigt, dass die Polizei den Eltern erst vom Tod ihres Sohnes berichtete, als sie am nächsten Vormittag bei der Polizeiwache nachfragten. Auch nicht dafür, dass die Polizisten den Păuns sagten, Vilis Leichnam werde in Frankfurt am Main aufbewahrt, obwohl Vili da noch tot im Auto auf dem Lidl-Parkplatz saß. Niemand hat um Entschuldigung dafür gebeten, dass den Angehörigen keinerlei psychologische Hilfe in den Stunden und Tagen nach der Tat angeboten wurde. Und es hat sich auch niemand dafür entschuldigt, dass die Behörden später Vilis Auto nur 50 Meter von der Wohnung der Păuns entfernt auf einem öffentlichen Parkplatz abstellten, mit sieben Einschusslöchern und samt den Markierungen der Polizei. 

Iulia Păun hat ihren Sohn gern verwöhnt. Wie man das so macht mit Einzelkindern. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Es sind noch viele Fragen offen, und dass sie überhaupt gestellt werden, haben ebenfalls die Angehörigen erreicht. Sie haben sich zu einer Initiative zusammengeschlossen, Informationen gesammelt, Pressearbeit gemacht, Anwälte eingeschaltet. Es ist auch ihrer Beharrlichkeit zu verdanken, dass im Hessischen Landtag ein Untersuchungsausschuss eingesetzt wurde, der die Geschehnisse der Tatnacht und in den Tagen und Wochen darauf aufklären soll.  

Am 17. Dezember 2021, der zweiten öffentlichen Sitzung, spricht Niculescu Păun vor dem Ausschuss im Landtag in Wiesbaden. Er hat eine Dolmetscherin dabei, einen Stapel Unterlagen und eine Psychologin als Beistand. Was er zu erzählen hat, ist schwer zu verkraften. Er nimmt sich Zeit für seine Aussage, der Vorsitzende muss zwischendurch Sitzungspausen einlegen, um Niculescu vor einem Zusammenbruch zu bewahren. Er schildert minutiös die Geschehnisse aus den Tagen nach dem Anschlag: "Nach einer kurzen Wartezeit hat uns der Beamte in ein Zimmer geführt und meiner Frau und mir zwei Gläser Wasser gereicht. Er teilte uns mit, unser Sohn sei am Kurt-Schumacher-Platz erschossen worden. Der Rettungswagen kam, weil wir ohnmächtig wurden." Er benennt auch das Versagen der Behörden in nüchternem Tonfall, hat Akten und Zeitungsartikel mitgebracht. Er spricht freundlich und respektvoll, sagt: "Ich habe mir das so sehr gewünscht, das hier vortragen zu können." 

Im Wintergarten, gut ein Jahr später, bringt er seine Enttäuschung deutlicher zum Ausdruck. "Wenn wir in Deutschland mit einem rumänischen Kennzeichen über die Autobahn fahren, weiß die Polizei sofort alles über uns. Aber unseren Sohn konnte sie nicht beschützen." Was er meint: Der Attentäter war den Behörden schon aufgefallen, hatte wirre Strafanzeigen bei der Bundesanwaltschaft und der Staatsanwaltschaft in Hanau gestellt, weil er glaubte, ausländische Mächte würden ihn verfolgen. Das hatte er Jahre zuvor schon einmal getan, daraufhin wurde er in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen. Er stellte weitere Anzeigen, deren Wortlaut zum Teil Auszügen aus dem späteren Pamphlet gleicht, das er vor der Tat veröffentlicht – nur die rechtsextremen Passagen fehlten damals noch. Trotzdem konnte der Attentäter sich als Sportschütze registrieren, seine Treffsicherheit trainieren und legal Waffen besitzen. Niculescu Păun atmet kurz durch und sagt dann: "Die Polizei ist eine Truppe von Amateuren." 

Als die ersten Schüsse in der Nacht fielen, am Heumarkt, hat Iulia Păun gerade Schnitzel gebraten. Sie und Niculescu hörten die Schüsse, die Wohnung in der Glockenstraße liegt nur rund 100 Meter vom ersten Tatort entfernt. Niculescu Păun hat das im Ausschuss erzählt, er wiederholt es auch im Wintergarten: "Ich sagte: Das waren Schüsse. Aber Iulia hat geantwortet: So etwas passiert in Deutschland nicht. Das ist bestimmt Feuerwerk."

Die Wahrheit ist: So etwas passiert in Deutschland. Es ist in Hanau passiert. Es ist passiert, als der NSU sich durchs Land mordete. Es ist in Halle passiert, als ein Antisemit eine Synagoge angriff. Es ist passiert, als ein Rechtsextremist den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke in seinem Garten hinrichtete. Es ist in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland immer wieder passiert. Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund wurden erschossen, in Brand gesteckt und zu Tode geprügelt. 

Niculescu Păun an Vilis Grab, aufgenommen während einer Trauerfeier für den Sohn am 11. Februar. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Die Păuns hätten nicht geglaubt, dass sie in Hanau einmal in Gefahr sein würden. "Ich wusste nichts von diesem kochenden Untergrund in Deutschland", sagt Niculescu während eines Spaziergangs zum Friedhof in Singureni. Am Eingang bleibt er stehen und bekreuzigt sich. Die Păuns sind rumänisch-orthodox, aber keine strengen Kirchgänger. Bloß an Weihnachten und Ostern. "Ich habe an Gott und an Jesus geglaubt. Jetzt bin ich da nicht mehr so sicher", sagt Niculescu, als er am Grab seines Sohnes steht. Geburts- und Todestag stehen dort auf weißem Marmor, dazu das Wort "erou", Held. Dort stehen auch die Namen von Niculescu und Iulia, als sei ein Teil von ihnen mit Vili gestorben. Sie wollen eines Tages hier begraben sein, zusammen mit ihrem einzigen Sohn. 

Es ist das Los der Einzelkinder, verwöhnt zu werden. Vili war da keine Ausnahme. Niculescu sagt: "Es war eine Ehre für mich, dieses Kind großzuziehen." Vili sei Frühaufsteher gewesen, meist noch vor den Eltern wach. Er mochte Fremdsprachen, sprach neben dem Rumänischen Englisch, Spanisch und Deutsch. Als sie nach Deutschland kamen, habe er in den ersten Monaten versucht, durchs Nachrichtenschauen die Sprache zu lernen. Italienisch wollte er einmal verstehen lernen, indem er die Betriebssprache aller Elektrogeräte im Haus umstellte. Vili reiste gern in die Berge, mochte vor allem die Karpaten.  

Und er hat gern Rezepte aus dem Internet nachgekocht. "Manches war gut, manches hat fürchterlich geschmeckt. Aber Iulia hat ihm immer gesagt, wie lecker es ist", sagt Niculescu. Es ist einer der wenigen Momente im Wintergarten, in dem beide lachen. Und noch eine dieser Marotten, deren Summe einen Menschen einzigartig macht: Vili hatte einen Sauberkeitsfimmel. "Manchmal hat er geduscht, bevor er in den Supermarkt ging, und gleich danach noch mal", erinnert sich Niculescu. Dass es mit den Klamotten nicht viel anders war, konnte Iulia schon mal wahnsinnig machen. Einmal hatte sie ein Oberteil von ihm, das absolut frisch und sauber war, bloß gebügelt und wieder in den Schrank gehängt. Vili habe das sofort bemerkt und darauf bestanden, dass es erst gewaschen werden müsse. 

In der Einfahrt der Păuns steht ein SUV, die Gartenzwerge wirken daneben noch winziger. Das Grundstück gehörte Iulias Mutter, sie haben es geerbt. Niculescu war Taxifahrer in Bukarest, arbeitete in Deutschland in einer Logistikfirma. Jeden Cent habe er gespart, um Vili ein gutes Leben zu ermöglichen. Im Fenster über der Veranda hängt ein Bild von Vili, im Hinterhof ein Banner mit den Fotos aller Opfer des Anschlags, darunter der Slogan #saytheirnames, "sagt ihre Namen", der zu einem stummen Wutschrei der Familien und Freunde der Toten wurde. 

Es ist ein schönes Haus, die Păuns haben es seit 2014 renoviert. Es sollte für Vili sein, falls er doch eines Tages nach Rumänien zurückkehren wollen würde. Vilis Leichnam wurde hier drei Tage lang aufgebahrt. 

Im Garten der Familie Păun in Rumänien hängt ein Banner mit den Fotos derer, die beim Anschlag von Hanau getötet wurden. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Als die Familie nach Vilis Tod heimkehrt nach Singureni, empfangen die Nachbarn sie mit Blumen. "Wir lachen zusammen und wir weinen hier zusammen", sagt Niculescu. Die Tochter des Bürgermeisters und Vili haben sich eine Schulbank geteilt, Vilis bester Freund von damals ist heute der Dorfpolizist. Die Grundschule, die Vili besucht hat, hat auch Niculescu früher besucht, er und Iulia kennen sich seit Kindertagen. Vor gut einer Woche haben sie die Nachbarn und Freunde zum Essen zu sich nach Hause eingeladen, um vorzeitig den Jahrestag von Vilis Tod zu begehen. 

Vili als Kind mit seinen Klassenkameraden. Er ist in Rumänien aufgewachsen, kam mit 18 nach Deutschland. Seine Eltern glaubten, hier habe er eine bessere Zukunft. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Die Păuns erzählen, dass Vili das Leben in Singureni sehr gemocht habe. Als sie nach Deutschland gingen, hätten ihm vor allem am Anfang seine Freunde gefehlt. "Er hat sogar die Steine am Straßenrand vermisst", sagt Niculescu. Aber er hat sich eingefügt in sein neues Leben. Am Wochenende fuhr die Familie gern in Nachbarstädte, nach Würzburg oder nach Frankfurt. Vili hatte seinen Führerschein in Deutschland gemacht, er sollte Fahrpraxis bekommen. Dann gingen sie Kaffee trinken oder bummeln. 

Vili fand Freunde aus Moldau in Frankfurt. "Einmal waren sie da auf dem Weihnachtsmarkt, Vili hat Glühwein getrunken und war danach total blau", sagt Niculescu und lacht so milde, wie Eltern lachen, wenn sie sich an die Eskapaden der eigenen Kinder erinnern, die sie auf dem Weg zum Erwachsensein erleben. Vater und Sohn haben im gleichen Betrieb in Dietzenbach gearbeitet. Es war Vilis erster Job, dort lernte er auch seine Freundin Alexandra kennen. 

In Vilis früherem Kinderzimmer erinnert ein überlebensgroßes Porträt an ihn. Nachbarn haben es hier platziert, die Păuns waren seit Vilis Tod nicht mehr in dem Raum. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Es sei den Păuns immer wichtig gewesen, aufrichtig und gut zu sein, sagt Niculescu, während Iulia bekräftigend nickt und den Gästen Suppe serviert – ein Freund der Familie ist mit seiner Tochter zu Besuch gekommen. Niculescus Vater stammt aus einer Roma-Familie, "und wir wissen ja um die Vorurteile. Aber wir sind keine Kriminellen", sagt Niculescu in einer Art vorauseilendem Gehorsam, der weit weniger über die Rechtschaffenheit der Păuns aussagt als über das offensichtlich reflexhafte Misstrauen, das Teile der deutschen Gesellschaft Menschen entgegenbringen, die versuchen, ein Teil von ihr zu werden. 

In der Tatnacht gehen die Eltern früh schlafen, um am nächsten Morgen ebenso früh zur Arbeit zu fahren. Sie denken sich am Abend nichts dabei, dass Vili nicht zu Hause ist. Erst nach dem Aufstehen, als sein Bett immer noch leer ist. Das habe er sonst nie gemacht. Niculescu versucht, seine Frau zu beruhigen. Gleichzeitig ruft er bei Vili auf dem Handy an, niemand nimmt ab. Im Radio hört er die Nachrichten vom Anschlag. Er schreibt eine letzte Nachricht an seinen Sohn: "Wieso gehst du nicht dran? Ich kann deine Mutter nicht beruhigen." 

Niculescu Păun zündet sich noch eine Pall Mall an und erzählt davon, wie er am späten Abend des 20. Februars am Tatort ankam. Dort habe er zwei Polizisten gehört, wie sie über seinen getöteten Sohn sprachen. Einer hätte etwas darüber gesagt, dass "Zigeuner und Zivilcourage" ja nicht zusammenpassen würden. Dass Niculescu danebenstand und sie verstehen kann, kam ihnen offenbar nicht in den Sinn oder es war ihnen egal. 

Nicht alle in Deutschland sind und waren so. Als die Păuns nach dem Anschlag nicht mehr in der Lage waren, in ihre Wohnung in der Glockenstraße zurückzukehren, räumten Freunde und Kollegen der Familie die Möbel für sie aus. Der Liedermacher Konstantin Wecker spielte ein Soli-Konzert, dichtete sein Lied Willy für den Getöteten um. Noch heute würden Menschen in Hanau den Păuns auf der Straße ihr Mitgefühl ausdrücken, wenn sie hier sind, um sich in der Initiative der Angehörigen zu engagieren oder, wie jetzt, zu den Gedenkfeiern am Jahrestag. Einmal habe sogar ein Mitarbeiter in der Bahn sein Bedauern ausgedrückt, als er Niculescu erkannte. Doch was nützt das ganze Bedauern, wenn es den eigenen Sohn ja doch nicht wiederbringen kann? 

Iulia und Niculescu Păun auf der Veranda ihres Hauses © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Tiefgreifende Trauer hat die Kraft, sich über alles zu legen wie eine zentimeterdicke Schicht aus Staub. Sie kann alles Bunte zudecken und das Atmen erschweren. Es ist schwierig, sich daraus zu befreien, vor allem dann, wenn man nicht will. Niculescu Păun geht manchmal in Frankfurt zu einem Psychologen, der rät ihm, sich abzulenken. Aber er weigert sich: "Das würde sich wie Verrat anfühlen." Das Aufstehen fällt den Eltern schwer und die einzigen glücklichen Momente, die ihnen bleiben, sind die, in denen sie über Vili reden, sagt Niculescu im Wintergarten. Weinen könne er nicht mehr, schlafen auch nicht. Eine Zeit lang hatten Niculescu und Iulia Păun nach dem Anschlag darüber nachgedacht, ein Kind zu adoptieren. Ein verzweifelter Gedanke, um eine Leerstelle zu füllen, die sich nicht füllen lässt. Sie haben den Plan wieder verworfen. Manchmal habe er nachts Angst, dass jemand ins Haus kommt und ihm oder seiner Frau etwas antut, sagt Niculescu Păun. Die Schüsse von Hanau hallen noch nach. 

"Es gibt das Wort Waise und es gibt das Wort Witwe. Aber wie nennt man Eltern, die ihre Kinder verloren haben?", fragt Niculescu am Grab seines Sohnes auf Deutsch. Es gibt einen Begriff dafür, "verwaiste Eltern", aber es ist eher ein sprachliches Hilfskonstrukt, so sperrig, als wolle sogar die Sprache selbst sich dieser Vorstellung entziehen. 

Nicht nur Vili wurde die Zukunft in Deutschland genommen, sondern auch seinen Eltern. In Singureni haben sie wenigstens noch eine Vergangenheit, an der sie sich festhalten können. Niculescu sagt: "Im Rumänischen gibt es ein Sprichwort, das sagt: Du bist ein Mensch, wenn du ein Haus bauen und einen Baum pflanzen kannst." 

Vili konnte das nicht mehr. Aber die Nachbarn in der Vili-Viorel-Păun-Straße haben das für ihn übernommen. 22 noch junge Linden säumen den Weg, eine für jedes Lebensjahr.

Die Straße, in der die Păuns wohnen, trägt heute den Namen ihres Sohnes. © Andreea Campeanu für ZEIT ONLINE

Text: Christian Vooren
Fotografie: Andreea Campeanu
Mitarbeit: Florin Campeanu
Redaktion: Frida Thurm
Bildredaktion: Andreas Prost, Caroline Scharff