Der Berlin-Song hat echte Konjunktur
Überall Pop-Hauptstadt-Gefühle: Internationale Bands und Musiker besingen wieder gerne Berlin. Einer der ersten war 1973 Lou Reed. Jetzt führt er sein Konzeptalbum "Berlin" erstmals live auf - in Kreuzberg. WELT ONLINE stellt zusammen, was eine Berlin-Hymne braucht.
Die wenigen gebürtigen und sesshaften Berliner wüssten immer gern, wie ihre Stadt so wirkt. Sie leben ja zu sehr darin. Seit jeher lässt sich diese Randgruppe am liebsten durch die auswärtige Popkultur über die Mythen ihrer Heimat unterrichten. Heute ist es Kele Okereke von der Londoner Rockband Bloc Party, der im Lied „Kreuzberg“ darlegt: „Saturday night in East Berlin / We took the U-Bahn to the East Side Gallery / I was sure I’d found love with this one lying with me / Crying again in the old Bahnhof.“ Dass dem verliebten Sänger dabei Ost und West verrutschen, sagt schon einiges über das heutige Berlin.
Nun kündigt sich auch der New Yorker Veteran Lou Reed an, um vor Ort, in Kreuzberg, erstmals sein Konzeptalbum „Berlin“ von 1973 aufzuführen. Die Berliner hat das Werk damals erschreckt. Die Stadt erschien in Reeds zehn schlecht gelaunten Songs als Heimstatt von Gewalt, Gefühlskälte und grausamen Geschlechterkriegen. Alles stellvertretend ausgetragen von einem bedauernswerten Paar, das selbstverständlich Drogen nahm, Prostitution und Suizid betrieb, also aus Sicht jedes Berliner Kleinbürgers eher nach New York gehörte.
Berliner trugen Blümchenkleider und lernten Englisch
Es ist heute nicht mehr zu ergründen, wie Lou Reed auf die Metapher für sein Album kam. Er selbst erklärt es mit der Mauer und der „Mauer in den Köpfen“. Erst als David Bowie 1975 nach Berlin zog, stattete Lou Reed dem Handlungsort erste Besuche ab. Aber die Liedersammlung lag auch 34 Jahre unbeachtet bei Lou Reed herum als wäre sie dem Schöpfer peinlich.
Die Kritik hatte „Berlin“ verschmäht, das Publikum war von der Platte deprimiert. Der Künstler fühlte sich von seinem Umfeld gründlich missverstanden, und es dauerte, bis sich New Yorker Festivalveranstalter das Album schön hören und Reed zur Aufführung bewegen konnten.
Keine Stadt wird von New York aus momentan so wohlwollend betrachtet wie Berlin. Lou Reed besucht die Stadt auch häufiger und sagt: „Die Leute scheinen heute glücklicher zu sein.“ Auf jeden Fall zufriedener als 1973 in „Berlin“.
Seit sich das Popgeschäft nicht nur für Amerikaner interessiert, erreichen den Berliner regelmäßig Wellen der Verklärung. 1963 sandte Stonewall Jackson seine Hymne „East Of West Berlin“. Die Spencer Davis Group aus Birmingham bereicherte die Sechziger mit den schon damals als grotesk empfundenen Berlin-Schlagern „Det war in Schöneberg, im Monat Mai“ und „Mädel ruck, ruck, ruck an meene grüne Seite“. Danach kehrte Ruhe ein. Auch die Berliner trugen Blümchenkleider, lernten Englisch und empfanden Kommunisten nicht mehr zwangsläufig als Kalte Krieger.
Finstere Nachtclubs, geschichtstrunkene Jugend
Was Lou Reed thematisierte, wies bereits prophetisch in die Zeit der späten Siebziger und Achtziger hinüber: David Bowie untermauerte das graue Bild Berlins durch Feldstudien in Schöneberg auf seinem Album „Heroes“ und in Stücken wie „Neuköln“ oder im Soundtrack für die „Kinder vom Bahnhof Zoo“. Wobei die Exilanten Iggy Pop und David Bowie reichlich Glamour auf die halbe Metropole regnen ließen.
Für die Punk-Provokateure war Berlin ein amüsanter Schreckensort aus Reichshauptstadt und Russenhauptquartier. Die Sex Pistols verbrachten ihre „Holidays In The Sun“ an der Berliner Mauer, auf den Ruf des Kommunismus wartend. Die Ramones krakeelten: „From old Hanoi to East Berlin / Commando / Involved again“ - und selbst noch 1995 „Born To Die In Berlin“.
Am interessiertesten wurde Berlin während der frühen Achtzigerjahre in der Popmusik begutachtet. Die Briten Fischer-Z sangen im Song „Berlin“ von finsteren Nachtclubs, neuen Idealen und einer geschichtstrunkenen Jugend. Die bärtigen Barcley James Harvest holten unterdessen vor dem Reichstag ein Berliner Woodstock nach und nahmen es als Album auf.
Ohne die Mauer wurde der Pop ziemlich fade
Berlin schien damals grundverschiedene Fantasien zu beflügeln: Für die einen breitete die eingeengte Stadt sich in die Tiefe aus, wo Nihilisten mittels Schrott emphatisch musizierten. Andere beeindruckten die Lichter einer provinziellen Großstadt, wieder andere das Rote Meer ringsum. Neil Young sang 1983 in „After Berlin“: „Lights are shining in the German sky / Clouds make walls between the moon and I“.
Kirsty MacColl verfluchte die verstellte Aussicht und den dichten Sound. Bruce Cockburn freute sich im Lied „Berlin-Tonight“ über den „Commie“-Pelzhut, den er hier über die Straßen trug. Und schließlich brummte Leonard Cohen „First we take Manhattan / Then we take Berlin“. Die Sehnsuchtsrichtung wurde erstmals umgekehrt. Wobei sich der Berliner noch nach mehr als 20 Jahren fragt, ob Cohen ihn eher dem Gespött Amerikas aussetzen wollte.
Merkwürdiger Weise würdigten weit weniger die Stadt während der wirren Zeiten nach dem Mauerfall. Der Pop schien ratlos ohne Mauer. Zeitgeistabgewandte Rockbands wie U2 mit ihrem Trabi-Album „Achtung Baby“, Icehouse mit „The Berlin Tape“, They Might Be Giants („Road Movie To Berlin“) oder Marillion, die in ihrem Beitrag zu „Berlin“ nichts anderes wahrnahmen als blonde Lederbräute, lieferten die schiefsten Bilder seit Lou Reed. Wer diese Songs betrachtete, sah keine Stadt, sondern nur eine Popkultur, die relevante Themen suchte, aber nur noch ihre eigenen Grenzen fand. Berlin verschwand lieber in Technobunkern und in Kneipen ohne Schankerlaubnis.
Der Berlin-Boom bringt die Klischees zurück
So absurd es wirkt: Seit sich die angesagten Gegenden Berlins nur noch geringfügig von denen Queens und Brooklyns unterscheiden, wird die Stadt wieder besungen. Robbie Williams jubelte 2003 „Berliner Star“ und hält für jedes neue Album in der deutschen Hauptstadt Hof. Die Pet Shop Boys besuchen regelmäßig „das Berlin von Christopher Isherwood“ (Chris Lowe); das heißt: die angeblich so glamourösen, sexuell enthemmten Zwanzigerjahre, „Cabaret“, all dies.
Den Briten folgte Rufus Wainwright, der im Köpenicker Haus des DDR-Rundfunks mit ihnen Songs wie „I’m So Tired Of Amerika“ aufnahm. Vor allem aber „Tiergarten“, von Wainwright sehnsüchtig als „tear garden“ besungen. Dem Kanadier schwebte für die freien Stunden vor, in Lederhosen durch den Tränengarten und den Schlosspark Sanssouci zu wandeln ( Kritik lesen Sie hier ).
Die Gentrifizierung der Besucherzentren einer Stadt bringt offensichtlich wieder die Klischees ans Licht. Im inneren Berlin den Klassizismus und das Brechteln und das Brauchtum. Nazischauder, DDR-Kitsch, Achtzigerjahre-Avantgarde und schließlich den entspannten Deutschen.
Jeder kann das hören, wenn ein 21-jähriger Kalifornier mit dem Künstlernamen Beirut Lieder singt, die „Brandenburg“, Prenzlauerberg“ oder „The Bunker“ heißen. Oder wenn die Band Black Black Rebel Motorcycle Club im aktuellen Stück „Berlin“ schon wieder schamlos an Lou Reed anknüpft: „She said / Suicides easy / What happened to the revolution.“ Allerdings erschrickt darüber kein Berliner mehr. Lou Reed: „Berlin ist berlinischer geworden. Größer, weltstädtischer, vereinter.“ Irgendwann wird der Berliner der Berlinischste von allen sein.
Lou Reeds „Berlin“: 25.6. Düsseldorf, 26.6. Berlin