Angela Merkels zweierlei Welten

Von Ralf Georg Reuth
Veröffentlicht am 19.06.2005Lesedauer: 7 Minuten

Gerd Langguth liefert mit seiner bemerkenswerten Biographie eine erste schlüssige Deutung der Politikerin Angela Merkel. Für den Politologen ist dabei ihre DDR-Sozialisierung entscheidend

Viel wusste man bislang nicht über die Frau, die sich anschickt, erste Kanzlerin Deutschlands zu werden. Von der kommenden Woche an ist dies nun anders. Mit Gerd Langguths aufwendig recherchierter Biographie werden Blicke auf Angela Merkels Leben in der DDR freigegeben, die so noch nicht möglich waren. Der Bonner Politologe, der einmal dem Bundesvorstand der CDU angehörte, liefert aber auch eine schlüssige Deutung der Politikerin, deren kometenhaften Aufstieg er nicht zuletzt als Resultat ihrer DDR-Sozialisierung ansieht.

Da ist ihr Vater, der dominante Pfarrer Horst Kasner, der Angela Merkel "entscheidend geprägt" habe. Langguth beschreibt den Geistlichen, der 1954 auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges von West nach Ost übergewechselt war und später im brandenburgischen Templin eine wichtige Einrichtung für die Ausbildung von Vikaren leitete, als Sympathisanten des SED-Staates. Seine politischen Anschauungen hätten ihm dort den Spitznamen "roter Kasner" eingebracht.

Langguth schildert anschaulich, wie Kasner gemeinsam mit dem als Stasi-Mitarbeiter (IM) geführten Clemens de Maizière, dem Vater des späteren DDR-Premiers, SED-Kirchenpolitik umgesetzt habe, etwa bei der Spaltung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik habe Kasner ebenso abgelehnt wie die Bonner CDU, die seiner Auffassung zufolge schon in den sechziger Jahren "abgewirtschaftet" hatte.

Soviel Hinwendung zur SED-Staatsmacht, die sich nicht zuletzt in der Mitgliedschaft in der Moskau-gesteuerten Prager Christlichen Friedenskonferenz (CFK) oder im Stasi-gelenkten Weißenseer Arbeitskreis ausdrückte, brachte Kasner Privilegien. Zu diesen gehörten zwei Autos sowie die Erlaubnis, in den nichtsozialistischen Westen reisen zu dürfen. Langguth erwähnt eine Fahrt mit der Nationalen Front der DDR nach Italien, in deren Folge Kasner geäußert habe, daß nur die KPI das Land vor dem weiteren Niedergang würde retten können.

Daß Horst Kasner in der DDR "etwas Besonderes" war, davon profitierten freilich auch seine drei Kinder. Anders als der Sohn eines systemkritischen Pfarrers aus Kasners Umfeld, der als Hilfsschlosser hatte arbeiten müssen, gehörte die 1954 geborene Angela zu den gerade einmal zehn Prozent des Jahrgangs, die die Erweiterte Oberschule (EOS) besuchen durften. Als "Kasi", wie sie damals genannt wurde, und einige Klassenkameraden im jugendlichen Übermut die Internationale auf Englisch - in der Sprache des Klassenfeindes - intonierten, drohte der Rausschmiß. Doch Horst Kasner konnte mit seinen guten Beziehungen die Sache regeln. Strafversetzt worden sei der Klassenlehrer Charlie Horn, der heute - so Langguth - über Angela Kasner beredt schweige.

Viele Details weiß Langguth von einer ansonsten ganz normalen Jugend - "mit Zahnspange und orthopädischen Schuheinlagen sowie Ängsten, Hoffnungen und prägenden Erlebnissen" - zu berichten. So etwa, daß sie an der EOS, wo sie die blaue Bluse der Freien Deutschen Jugend (FDJ) trug, Klassenbeste gewesen sei. Nicht nur in der Beherrschung der russischen Sprache, die so "gefühlvoll" sei. Oder daß sie sich während der Moskau-Reise zur Russisch-Olympiade ihre erste Beatles-Platte, "Yellow Submarine", kaufte.

Dem Abitur folgte das Studium der Physik an der Leipziger Karl-Marx-Universität. Wer es einmal bis dorthin geschafft hatte, dem war die naturwissenschaftliche Karriere sicher - vorausgesetzt, daß man bei dem mit viel Ideologie flankierten Studium nicht aneckte. Dissidenten wie Biermann und Havemann waren für Angela Kasner kein Thema, sondern das Engagement in der SED-Jugendorganisation. Sie selbst berichtete, sie sei Kulturreferentin gewesen und habe sich um die Bereitstellung von Theaterkarten gekümmert. Andere, die Langguth ebenfalls befragt, erinnern sich, daß sie "Sekretärin für Agitation und Propaganda" gewesen sei. Auf Unterlagen kann Langguth hier nicht zurückgreifen, denn es gibt sie offenbar nicht mehr, genauso wenig wie Angela Kasners Pflicht-Arbeiten in Marxismus-Leninismus.

Bei einem Studentenaustausch in Moskau lernte die Pfarrerstochter ihren späteren Mann Ulrich Merkel kennen. 1977 wurden die beiden Physikstudenten von Horst Kasner daheim in Templin getraut. Doch die Ehe ging bald in die Brüche. "Eines Tages packte sie ihre Sachen und zog aus unserer gemeinsamen Wohnung aus. Sie hatte das mit sich selbst ausgemacht", erinnerte sich Ulrich Merkel.

Das war 1981. Angela Merkel hatte zu diesem Zeitpunkt ihr Studium mit einem Einser-Examen abgeschlossen und forschte als Diplom-Physikerin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie, einer Abteilung der DDR-Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof. Unterbrochen wurde der Alltag durch einen längeren Aufenthalt in Prag und eine ausgedehnte Individualreise durch die Sowjetunion.

Während der Arbeit an ihrer Dissertation trat Michael Schindhelm in ihr Leben. "Die Chemie zwischen Angela und mir", so der heutige Kulturfunktionär und ehemalige Stasi-IM, "hatte eher damit zu tun, daß die Kollegin aus dem Nachbarbüro jeden Tag ein Tablett mit türkisch gebrühtem Kaffee auf meinem Schreibtisch abstellte (...) und wir uns mit den fantastischen Entwicklungen im Perestroikaland beschäftigten."

Was in Gorbatschows Sowjetunion in Bewegung geriet, hatte viele in der DDR in den Bann gezogen, nährte es doch die Hoffnung auf Reformen im verknöcherten Honecker-Staat. Bei Angela Merkel, die 1986 promoviert wurde - bei der Durchsicht ihrer Dissertation half ihr heutiger Ehemann Joachim Sauer -, war dies allerdings zunächst weniger der Fall als beim Vater in Templin. Als im Herbst 1989 die politischen Parteien wie Pilze aus dem Boden schossen, soll Horst Kasner "im Hintergrund die Fäden gezogen" haben. Nachdem der Traum von einem reformierten Sozialismus in einer weiterhin eigenständigen DDR ausgeträumt war, müssen Enttäuschung und Verbitterung beim Templiner Pfarrer groß gewesen sein. Seine Äußerungen legen dies nahe, wenn er den "begrenzten" geistigen Horizont der West-Politiker anprangerte oder die Proporz-Demokratie als "Klüngel-System" brandmarkte.

In der späten Wendezeit begann sich Angela Merkel zusehends - so Langguth - von ihrem "tief in das DDR-System verstrickten" Vater zu emanzipieren. Und dennoch, so der Bonner Politologe, arbeitete sie sich an ihm ab, "wollte sich ihm gegenüber beweisen". Dies geschah mit der Präzision einer mathematischen Gleichung.

So trat sie nicht in die neugegründete SPD ein wie ihre als warmherzig beschriebene Mutter. Und auch nicht in die Partei, deren Vorsitzende sie heute ist. Angela Merkel, der man damals am ehesten ein Engagement bei den Grünen zutraute, schloß sich vielmehr dem neugegründeten Demokratischen Aufbruch (DA) an, der von dem später enttarnten Stasi-Mitarbeiter Wolfgang Schnur geführt wurde. Mit dem Beitritt hätte sie sich - so Langguth - nicht irreversibel auf eine bestimmte westdeutsche Parteiformation festgelegt.

Wie auch immer: Am Ende gehörte Angela Merkel als DA-Vorstandsmitglied der "Allianz für Deutschland" an und damit jenem Bündnis, das die Volkskammerwahlen vom März 1990 im Schlepptau Helmut Kohls gewann.

Der erste Mann der DDR hieß nun Lothar de Maizière, der Sohn des alten Kasner-Mitstreiters. Der später als Stasi-Mitarbeiter belastete DDR-Premier, der von einem regelrechten Netzwerk nach Moskau orientierter Berater eingerahmt war, holte sie dann als stellvertretende Regierungssprecherin in sein Amt. Obwohl sie nicht zum engsten Kreis der Macht gehörte, gelang es ihr, sich durch "Intelligenz und Zuverlässigkeit", so das "Neue Deutschland", einen Ruf zu schaffen, der sie für Höheres empfahl.

Der Premier selbst und sein Staatssekretär Günther Krause waren es - so berichtet Langguth -, die nach dem Aufgehen des DA in der CDU des Kanzlers Blick auf Angela Merkel lenkten. Und der war von der Pfarrerstochter angetan, paßte sie doch gut in eine künftige Regierungsmannschaft.

Nach den triumphal gewonnenen ersten gesamtdeutschen Wahlen des Oktobers 1990 wurde aus der promovierten Physikerin die Bundesministerin für Frauen und Jugend. "Plötzlich saß ich" - so sagte es einmal Angela Merkel in der Rückschau - "mit all den Leuten am Tisch, die ich mein Leben lang im Fernsehen gesehen hatte."

Es war dies der Beginn einer schier unglaublichen, oft beschriebenen Karriere. Langguth zeichnet diese akribisch nach - von der jungen Bundesministerin bis hin zur Kanzlerkandidatin. Er dokumentiert, wie sie auf diesem Wege Helmut Kohl und schließlich Wolfgang Schäuble ausmanövrierte.

Die lange unterschätzte Angela Merkel hat zwar die DDR weit hinter sich gelassen, aber dennoch ist sie ohne diese DDR nicht zu verstehen. So sieht Langguth in der dort alltäglich gewesenen Trennung zwischen Privatem und der offiziösen Staatsloyalität ihre Unfähigkeit begründet, Einblick in das eigene Ich zu geben oder so etwas wie einen eigenen Kompaß zu vermitteln. Gleichwohl habe sie einen solchen Kompaß. Als Reflex auf den realexistierenden Sozialismus denke sie nämlich "in Kategorien individueller Freiheit und Verantwortung, was etwa ihrem positiven Amerikabild entspricht".

Dies und die einer Naturwissenschaftlerin eigene rationale Sicht der Dinge bescheren ihr nach Langguths Deutung einerseits ein hohes Maß an politischer Beweglichkeit. Andererseits mache es sie mitunter in der eigenen Partei heimatlos, einer Partei, die aus ihrer christlich-demokratischen Tradition lebe. In den Brüchen ihres Lebens, beziehungsweise in ihrer "politischen Wurzellosigkeit" - resümiert der Autor in seinem bemerkenswerten Buch - lägen für Angela Merkel so Gefahr und Chance gleichermaßen.


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