Porträt: Hartnäckiges Wohlwollen

Von Mariam Lau
Veröffentlicht am 27.01.2006Lesedauer: 7 Minuten

Ernst Cramer überlebte den Judenmord der Nazis und widmete sich der liberalen Resozialisierung Deutschlands. Heute spricht er im Bundestag

Wenn der 92 Jahre alte Ernst Cramer heute vor dem Deutschen Bundestag steht, um an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zu erinnern, werden die eigentlichen Adressaten der Rede fehlen: sein Vater Martin Cramer, seine Mutter Clara, sein Bruder Erwin.

Man sprach hochdeutsch zu Hause. Ein Dialekt kam nicht in Frage, auch kein Jiddisch - obwohl das Wort "simervoigel" gelegentlich aufgekommen sein soll, aber nur um zu zeigen, wie ähnlich es dem bayerischen "Sommervogel" ist: Schmetterling. In Augsburg, wo die Cramers lebten, betrieb Martin Cramer mit Bert Brecht und einer Germanistikstudentin eine "Literarische Gesellschaft". In den Ferien bewohnte er das billigste Zimmer in den bayerischen Bergen und wanderte von Vorort zu Vorort, allein, mit Buch im Gepäck. Der Stolz des deutschen Judentums, das seine Emanzipation auch Napoleons Feldzug verdankte, äußerte sich bei den Cramers unter anderem darin, daß man die Synagoge vor allem zu den "Jahrzeiten" besuchte, den Tagen der Erinnerung an bestimmte Vorfahren. Man war so jüdisch wie andere evangelisch waren, basta. "Im jüdischen Religionsunterricht", so erinnert sich Ernst Cramer, "habe ich mehr über deutsche Literatur gelernt als im Deutschunterricht: Ihr müßt Nietzsche lesen, hatte Rabbiner Grünfeld gesagt. Unsere religiösen Kenntnisse waren entsprechend erbärmlich." Fromm war die Familie nicht, auch nicht glühend zionistisch: Wer sich so mit Deutschland identifizierte wie Martin Cramer, der konnte für die Auswanderung nach Palästina keine Begeisterung aufbringen. Sein Kaufmannsberuf - erst im Weinhandel, dann im Zigarrengeschäft - war der Broterwerb, die Leidenschaften flossen in die Sprache, die deutsche Sprache. Mit Freunden spielte er abends Cello. Die Mutter, die den Ursprung ihrer Familie über Jahrhunderte zurückverfolgen konnte, hatte eine Sammlung von Mokkatassen. Es war eine Sache gewesen, daß die Sturmtruppen nach der "Kristallnacht" die Bücher - Voltaire, Rousseau, Goethe, Vergil - verbrannt und das Porzellan zerschlagen hatten, eine andere, daß sie das Cello zertrümmerten. "Er war ein Träumer", hat Ernst Cramer einmal über seinen Vater geschrieben.

Ernst Cramer war keiner. Als die Eltern in der großen Wirtschaftskrise das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnten, zog der 16jährige Ernst hinaus in die wilde Praxis: zuerst kaufmännische Lehre, Arbeit im Kaufhaus, und dann, ab 1937, als man noch rund um ihn herum hoffte, der Spuk werde bald ein Ende haben, bereitete er seine Auswanderung vor. In der Landwirtschaft, in Schlesien, auf einem von Juden organisierten Gut in Groß-Breesen. Dort wurde er 1938 von den Nazis festgenommen und nach Buchenwald deportiert. Er sah neben sich jüdische Offiziere des Ersten Weltkriegs, die man zu winselnden Bündeln reduziert hatte, Rabbiner mit geschorenem Kopf und im Lager verfilztem Bart, und hörte klirrende Rufe von den "Bürgern" am Straßenrand.

Er war einer der letzten, die Deutschland noch verlassen konnten. Man ließ ihn gehen, weil er nachweisen konnte, seine Auswanderung vorbereitet zu haben. Mit der Tatsache, daß Cramer seine Eltern und seinen Bruder in Deutschland zurücklassen mußte, deren Spur sich 1942 nach ihrer Deportation Richtung Vernichtungslager verliert, begann für ihn so etwas wie der Fluch des Überlebenden: warum ich? Warum nicht mein Bruder? Warum habe ich nicht mehr getan, die Familie nachzuholen? Sie hatten ja schon Nummern für ihre Ausreiseanträge, aber die Nummern waren zu hoch. Es war zu spät. Es gab vermutlich nichts, was er hätte tun können, aber einem Überlebenden nutzt es wenig, das zu wissen.

Kühe melken, Heu harken, Saat ausbringen - nach solchen Fähigkeiten suchte man in Palästina händeringend, aber Ernst Cramer ging nach Amerika. Zunächst nach Virginia, dann nach Mississippi, der Heimat von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Als er den Bus in Baltimore bestieg, setzte er sich in die letzte Reihe. Der Schaffner kam und machte den aus Deutschland geflohenen Juden darauf aufmerksam, daß es ihm nicht gestattet sei, in der "Nigger Section" Platz zu nehmen. "Ich mußte nach vorne, weil ich zur besseren Rasse gehörte." Er kann sich noch heute an den ansprechenden Popo der Tochter des Sharecroppers der Farm erinnern, "den bisher einzigen fremden nackten Hintern", der einmal im grünen Gras vor seinem Auge prangte, und teilt diese Erinnerung auch heute noch gern mit.

Daß Cramer seine Vaterstadt als Soldat wiedersah, als Teil der Macht, welche die Konzentrationslager befreite und unmittelbar im Anschluß sich an die Resozialisierung Deutschlands machte, wird ihm die Rückkehr erleichtert haben. In einem zerbombten Haus in Augsburg fand er Flugblätter wieder, die er zuvor selbst geschrieben hatte und die als Nachrichtenbomben abgeworfen worden waren. Nicht als Häufchen Elend, als Geschlagener nach Deutschland zurückzukehren, sondern als G.I., mit wohlwollendem Herzen, aber auch einer Waffe in der Hand oder, wie es bei Theodore Roosevelt geheißen hatte: "Speak softly, and carry a big stick". Nach dem Angriff auf Pearl Harbor hatte er sich einziehen lassen. Nun ging es im offenen Jeep über Schlaglöcher, Trümmer und Schutt nach Buchenwald, wo er sieben Jahre vorher noch selbst Insasse gewesen war, als die ersten Häftlinge ihm entgegentorkelten. Henry, der Fahrer seines Wagens, war zusammengebrochen, Cramer, "Ernie", steuerte den Wagen. Ausgerechnet in diesem Moment reifte sein Entschluß, in Deutschland zu bleiben.

Juden, die nach dem Krieg wieder in Deutschland leben wollten, sahen sich mitunter aus der Diaspora mißtrauisch beäugt. Ignatz Bubis hat von der Erfahrung berichtet, geradezu vorwurfsvoll vor allem in Israel gefragt worden zu sein, was es mit der jüdischen Gemeinde in Deutschland überhaupt noch solle. In dieser Rechtfertigungsnot sprach der frühere Zentralratsvorsitzende Heinz Galinski gelegentlich von dem "Lebenden Mahnmal", als das die Gemeinde in Deutschland fungieren sollte - eine ziemliche Bürde für ein beherztes Ankommen in der Gegenwart der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Ernst Cramer hat einen anderen Weg gewählt, den Weg Melvin Laskys und Hannah Arendts, den Weg eines aktiven Liberalen. Axel Springer begegnete er 1957. Politisch verband sie der Antitotalitarismus, die Freundschaft mit Amerika und Israel, die offene Konfrontation mit der NS-Vergangenheit. Er wurde zur rechten Hand des Verlegers und steht noch heute dessen Nachfolger zur Seite: "Ernst Cramer", sagt Mathias Döpfner, "lebt für ein Land, das das Judentum, seine Familie und ihn selbst vernichten wollte und fast vernichtet hat. Ich fürchte, ich könnte das nicht. Aber ich bewundere ihn dafür. Und ich bin ihm sehr dankbar." Wenn Cramer gelegentlich kommentierend interveniert, nimmt er keine Rücksichten auf Freund oder Feind. Als die Vorfälle im irakischen Gefängnis Abu Ghraib bekanntgeworden waren, berichtete er in einem Leitartikel von seinen Erfahrungen als Vernehmer bei der US-Armee, wo er es auch einmal mit jemandem von der Waffen-SS zu tun bekommen hatte, der sich wunderte, warum Cramer ihn so gut behandelte. "Achtung vor Gefangenen war ein hehres Gesetz der amerikanischen Armee, ist es noch heute. Es ist unverständlich, warum die amerikanische Armee die Erfahrungen, die sie im Zweiten Weltkrieg gemacht hat, im Irak beiseite warf. Die Bürgerrechte sind Schutzschild und Wahrzeichen Amerikas." Ganz gelegentlich einmal hat er sich auch für seine Zeitung geschämt, als etwa die Verleihung des Nobelpreises an Willy Brandt zunächst nur in einer Randnotiz von der WELT gemeldet wurde. Die großen Aufregungen der Verlagsgeschichte: die 68er, der Terror, sogar die Wiedervereinigung, relativieren sich ansonsten sehr vor der Kulisse dessen, was der ehemalige Chefredakteur, Geschäftsführer, Aufsichtsrat, Herausgeber und Testamentsvollstrecker erlebt hat - er ist noch heute Vorstandsvorsitzender der Axel-Springer-Stiftung.

Die jetzige Generation der Redakteure kennt ihn als freundlichen, humorvollen und beschämend kollegialen Gentleman, dem nichts so zuwider ist wie Aufdringlichkeit - was es manchmal fast schwer macht, seinen Rat einzuholen. Als geselligen Menschen würde er sich nicht beschreiben. Seine beiden Kinder leben in Norwegen und den USA, seine Frau größtenteils in Hamburg. In seinem Haus in Zehlendorf ist er meist allein.

Daß er so hartnäckig an Deutschland glaubt, hat die Bundesrepublik Ernst Cramer bereits mit dem höchsten Verdienstkreuz gedankt, das sie ihren Bürgern verleiht. Mit der Rede heute vor dem Bundestag schließt sich ein Kreis, fast. Morgen ist sein 93. Geburtstag.


Mehr aus dem Web

Neues aus der Redaktion

Auch interessant

Mehr zum Thema