Korrigier das mal!

Von Friedrich Pohl
Veröffentlicht am 07.11.2008Lesedauer: 3 Minuten

Es gibt neue Erkenntnisse darüber, wie Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel die h-Moll-Messe vollendete

Die Wissenschaft beißt sich an ihr die Zähne aus, wie an kaum einem anderen epochalen Werk der Musikgeschichte: die Messe BWV 232 von Johann Sebastian Bach (1685-1750), besser bekannt als h-Moll-Messe beziehungsweise "Hohe Messe in h-Moll", wie sie die Romantik später taufte, als man ihr Potenzial endlich erkannte. Es ist die Messe aller Messen. Lediglich die Gattungsbeiträge von Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377) und Ludwig van Beethoven (1770-1827) kann man mit gutem Gewissen noch in einem Atemzug nennen. Und wer sich nur einmal auf die ersten Takte des "Kyrie" eingelassen hat, der weiß, dass diese Musik über allem schwebt.

Doch so bedeutend Bachs Komposition auch ist, so groß sind die Rätsel, die sie aufgibt. Der Anlass des Werkes ist nach wie vor weitgehend unklar, und auch die Noten selbst sorgen für reichlich Fragen. Zudem wurde die Messe nach und nach komponiert und erst mit der Zeit zu dem zusammengesetzt, was wir heute als ganzes Werk kennen.

Für eine Neuausgabe, die 2009 zum Auftakt einer Reihe mit revidierten Bänden erscheinen soll, hat das Leipziger Bach-Archiv Bachs h-Moll-Messe jetzt noch einmal richtig unter die Lupe genommen. Mit erstaunlichen Ergebnissen. Dabei spielt Bachs zweitältester Sohn Carl Philipp Emanuel (1714-1788) eine entscheidende Rolle. Der zuständige Wissenschaftler Uwe Wolf sagt: "Wir wissen jetzt, dass Carl Philipp Emanuel viel früher als bisher angenommen in das Autograph eingegriffen hat. Auf ihn geht nicht nur eine Einrichtung für eigene Aufführungen zurück, sondern im Credo stellenweise auch die gültige Endform, indem er fehlenden Text ergänzte oder stehen gebliebene Fehler des Vaters eliminierte."

Die letzte Edition des Werkes von Friedrich Smend stammt bereits aus dem Jahr 1954. Smend ging von inzwischen widerlegten Tatsachen aus. So hielt er manche Korrekturen von Carl Philipp Emanuel fälschlicherweise für die Handschrift des Vaters. Obendrein datierte er viele Abschriften viel zu früh. Für die Neuedition ließ Wolf das Manuskript bzw. die Tinte neu untersuchen, mit Hilfe der Röntgenfluoreszenz-Analyse.

Bei dieser Methode wird ein kleiner Tintenbereich mit Röntgenstrahlen bestrahlt. Am Ende kann man sehen, welche Elemente in welchen relativen Mengen in der Tinte enthalten sind. Und da sich die Tinten von Vater und Sohn reichlich unterschieden, konnte Wolf herausbekommen, dass Carl Philipp Emanuel bereits am Autograf korrigierte, bevor die erste Abschrift angefertigt wurde.

Zweite Erkenntnis: Die Abschriften waren, wenig überraschend, nicht fehlerfrei. Sie geben den Zustand der Handschrift nach den ersten Korrekturen nur eingeschränkt zuverlässig wieder.

So aufschlussreich diese Nachrichten sind - sie werfen neue Fragen auf: Durch Tintenfraß (eine Art Rost für Papier) sind Teile der Partitur sehr beschädigt. Bedauerlicherweise an besonders stark korrigierten Stellen. Doch wer hat hier eingegriffen? Vater? Sohn? Es darf wieder spekuliert werden.

Aber das macht man bei Bach ja immer gern. Im aktuellen Wikipedia-Eintrag zur h-Moll-Messe stimmt jedenfalls nicht viel. Dass Bach den Auftrag für die h-Moll-Messe vom Grafen Johann Adam von Questenberg bekommen haben soll, will man dort einem Forscher unterschieben, der das so nie behauptete. Zudem soll es 1749 zu einer kompletten Aufführung des Werkes gekommen sein - pure Spekulation. Zuletzt war sich der Dirigent Ton Koopman in einem Interview mit der WELT sicher, dass Carl Philipp Emanuel bewusst Teile der "Kunst der Fuge" unterschlug, um den Ruhm des Vaters zu mehren. Das Rätseln geht also weiter.


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